Mittelreich
Durst und Hunger spürt sie nicht. Nur sich selbst als nicht mehr sich. Der eigene Geruch wird unerträglicher im anderen, und sie beginnt den eigenen Geruch zu hassen, den anderen. Dann wird der Hass zur Qual, und sie verzeiht dem anderen, um den Hass so zu ertragen, der trotzdem bleibt. Sie wünschte sich, sie wäre tot, dass alles bliebe wie es ist.
An ihre Mutter denkt sie, die am Wundstarrkrampf gestorben ist, und an die Selbstvorwürfe ihres Vaters, dass der die Einsargung der Mutter nicht gegen Arzt und Leichenfrau verweigert hat. Er wusste, dass sich manche Wundkrampftoten, als sie schon im Sarge lagen, wieder rührten, weil sie doch nur scheintot waren. Was, wenn sie noch nicht tot gewesen war? Diese Frage hat ihn wochenlang getrieben. So wie sie sich jetzt fühlt, muss die Mutter sich erlitten haben, wenn sie noch am Leben war und schon im Grab. Und sie fühlt Gemeinschaft mit der toten Mutter und sich beinahe geborgen. Beinahe.
... weit weg am Horizont treibt eine Schar von Leuten durch die Felder. Voraus schwebt, wie eine Wolke, nah am Boden, in einer stolzen Haltung, die alle zu ihr aufschauen lässt, die Mutter. Den Oberkörper und die vollen Brüste zwingt das Mieder ihrer Tracht in Form und Anstand einer alten Tradition, der sie aber schon entflieht: Der schwere grünrotblaue Samtrock löst sich auf in Rauch und verschwindet rußgeschwärzt im All. Je mehr sie aufsteigt, desto mehr verformen sich Gewand und Mieder und zergehen in gewitterschwarzem Grau. Die Theres spürt die Scham der Nacktheit ihrer Mutter und genießt zugleich zunehmend Leichtigkeit und Schein. Sie hört, wie ihre Mutter sie mit leisen Rufen lockt, mit verschiedenen Stimmen, lauter werdend und näher kommend, während sie sich geisterhaft entblößt ins Nichts, in Himmel, Sphäre, Abglanz. Die Stimme ist ganz nah an ihrem Ohr, bis es des Vaters Stimme ist ... der mit einer Stalllaterne ihr Versteck ausleuchtet und sanft an ihren Schultern rüttelt und sagt: Wach auf!
Erlebnis und Traum werden sie begleiten, ohne dass sie es merkt. Sie wird Traditionen geläutert gegenüberstehen. Im Angstloch, im Hohlraum der Geschichte, der sie entfloh, aber nicht entging, wird Folklore obsolet.
Die KZ -Gefangenen waren wieder verschwunden, noch ehe das Huhn zubereitet war. Ihre ausgehungerten Mägen waren von Milch und Brot bis zum Erbrechen übersättigt, und ihre kranken Gedärme schmerzten furchtbar. Die Angst vor den Bluthunden der Bluthunde trieb sie weiter. Unterm Herrgottswinkel zurück blieb ihr Landsmann, der Zwangsarbeiter, zusammengekauert zum Elendsfleischhäufchen. Der alte Lot und seine drei Töchter knieten daneben nieder und beteten das Vaterunser.
Ins Haus des Schwarz, das der Seewirt zu Beginn des zweiten Jahrzehnts erworben hatte, um sich dem anschwellenden Strom der aufs Land drängenden Sommergäste durch immer mehr Zimmerkapazität gewachsen zu zeigen und dessen eine Parterrehälfte ab dem Ende des Ersten Weltkriegs von der pensionierten Kammersängerin Krauss dauerbewohnt und ein Zimmer darin von ihr zum Unterrichtsraum für fortgeschrittene Gesangsausbildung sinnerhöht worden war – in dieses Haus war am Ende des Sommers 45 , als der gewaltige Strom der Flüchtlinge aus dem Osten noch einmal kräftig anschwoll, nachdem er vorher bereits abzuebben schien, in eines der drei ehemaligen Zimmer der Krauss, die kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs an einer Lungenembolie gestorben war, das ostpreußische Edelfräulein Charlotte von Zwittau eingezogen, und zwar in das kleinste der insgesamt drei Zimmer, in jenes nämlich, das die Krauss einst zum begehbaren Schrank für ihre umfangreiche Garderobe umfunktioniert hatte. Das Fräulein von Zwittau, schon fortgeschritten im Alter, musste sich mit diesem Zimmer zufriedengeben, da die beiden anderen, großräumigeren Zimmer bereits von zwei Bewohnern in ebenfalls fortgeschrittenem Alter besetzt waren, die dem Platzbegehren der anrückenden Flüchtlinge aus dem Osten gerade noch durch eine rechtzeitige Flucht aus der zerbombten Hauptstadt zuvorgekommen waren: Es waren dies der Maler Alf Brustmann und der Cellist Leo Probst. Diese drei Menschen bildeten nun für die nächsten sieben bis zehn Jahre den harten Kern des kulturellen Fortbestands im Nebenhaus des Seewirts.
Die andere Hälfte des Hauses beherbergte die gesamte Großfamilie des Haus- und Grundstückskaufmanns März. Hier begriff man Kunst eher als ein nach den Zerstörungen des Krieges zügig wieder
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