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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Amuse-Gueule, den ganzen Brotlaib auf. Mal geht der eine vor die Tür zum Kotzen, dann wiederum der andere. Wachsam sitzt der Lot am Küchentisch, nervös und ruhig zugleich, denn solange die wie auferweckte Hungertote in der Küche fressen, können sie der durchgegangnen Tochter nichts zuleide tun. Und mehr als zwei, so hofft er, werden es nicht sein. Sobald sich aber etwas ändern würde, wäre er sofort bereit, bis zum eignen Tod zu kämpfen.
    Was hat wo so was aus denen da gemacht, fragt er sich. Die gestreifte Kleidung der Vertierten weist der Frage gleich den Weg. Er hat schon von KZ s gehört, wo zwar auch ein paar Juden, vor allem aber doch Gesindel und Verbrecher weggesperrt sein sollen. Und Kriegsgefangene. Doch hat ihm der Pole, seiner, weil es ihm verboten war, unter Hinweis auf die Zwangsrückholung in das Totencamp – wovon der Lot jedoch nichts weiß –, nie was erzählt von diesem Grauen, vor dem ihn jetzt, dem Lot, in seiner eignen Küche graut. Was muss einer angerichtet haben, dass so eine Verstümmelung gerechte Strafe ist? Über das Politische in seinem Leben hat er nie lang nachgedacht. Das führt zu nichts, war seine Losung. Seit dem Tod der Frau weiß er, dass das Härteste am Schicksal sehr private Züge hat. Wer den Pferdewagen lenkt, das rührt das Pferd am andern Zügelende wenig, weiß er von den Pferden. Außerhalb der Klappen über ihren Augen scheinen ihnen alle gleich. Manchmal reißt der Zügel eben härter. Und mit dem Staat ist es genauso. Machen kann man sowieso auf Dauer nichts. Nur im Kleinen ist es anders: Wer der Gemeinde vorsteht, das lässt sich vielleicht das eine oder andere Mal bestimmen.
    Über den Gedanken vergisst er ein wenig die abwesende Tochter. Die hat sich jetzt in tiefer Dunkelheit, so tief, dass in solche Schwärze sie noch nie gesehen, wie sie später mal erzählen wird, in der Tiefe der Scheune, an ihrem anderen Ende, hinter angelehnten, vom hoch aufgeschichteten Heu zugedeckten Brettern ein Versteck erfühlt, in dem sie, seit mehr als einer Stunde schon – doch das weiß sie nicht, sie denkt, es sind schon Stunden –, nichts mehr hört außer ihren Herzschlag. Sie presst die eine Hand auf ihre Brust, um das dumpfe Hämmern abzudämpfen. Dann denkt sie, auch das Rasen der Gedanken kann man hören, und fühlt mit ihrer anderen Hand, ob es auch zu spüren sei. Sie weiß nicht, was im Hause vor sich geht, nicht, ob noch jemand lebt. Sie ist mit ihrer Fantasie schon so tief vorgedrungen in die Katastrophe, dass ihr kein Ausweg mehr gelingt. Da droht die Luft ihr in den Atemwegen wieder stehenzubleiben, und sie würde in der Enge hier ersticken, das weiß sie. Davon wird ihr schlecht, aus purer Todesangst, und sie erbricht sich auf der Stelle. Das bewahrt sie vor der Atemnot durch übergroße Atemgier und rettet ihr das Leben. So sinkt sie, voller Scham und Ekel, in die Knie und von da aus weiter in die Lache und in den Gestank des von ihr Erbrochenen und spürt die Demütigung durch eigne Kreatürlichkeit wie nie zuvor in ihrem Leben.
    Was soll aus ihr werden, wenn sie alle tot sind, denkt sie, was hilft dann noch die eigne Existenz? Mit welchem Recht bleibt sie allein am Leben, und welche Schuld kann größer sein als nachher ihre? Weiterleben wird sie nur mehr mit Gewalt. Gewaltsam leben! Nichts Leichtes wird ihr Leben mehr beschwingen.
    Das Letzte, was sie sah, bevor die Dunkelheit sie deckte, war ihr Vater, wie der sich auf das eingedrungene Grauen warf, um ihr das Leben zu erhalten und einen unberührten Leib. Hat er das seine jetzt schon ausgehaucht? Als sie in die Scheune flüchtete, hatte sie im Schein der Lampe noch ein zweites, noch furchterregenderes Menschentier gesehen, größer noch als schon das eine. Was kann ein Vater mit zwei Schwestern gegen zwei so Ungeheuer tun? Mit dem Polen ist nicht mehr zu rechnen. In dessen Augen hat sie Apathie gesehen, eine abgestorbene Lebendigkeit, die sie sich jetzt wünscht. Verzweifelt. Ein solcher Zustand könnte ihr jetzt helfen.
    Stattdessen ist sie aufgewühlt von Aussichtslosigkeit und Schuldgefühl. Sie weiß nicht, dass ihr Jäger längst die Witterung verloren hat und dass sein Körper so verbraucht ist von der Folter, dass sein Gelüst nicht Arterhaltung, sondern pure Selbsterhaltung meint. Sie glaubt ihn immer noch in ihrer Nähe und wagt nicht den geringsten Laut. Angst haust in ihr und saugt und laugt sie aus in tiefer Stille. Stundenlang. Dann Tage. Sie wird sich selber immer fremder, anrüchiger.

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