Mittelreich
Behindertenrente. So waren sie auf erwerbsmäßige Einkünfte nicht unbedingt angewiesen. Lediglich die beiden Jungen konnten gegen ein paar Mark Taschengeld hie und da zum Viehhüten angefordert werden. Und die Miete, die von der Behörde bezahlt wurde, war ihr Wort nicht wert.
Viel war also nicht herauszuholen aus den Flüchtlingen beim Seewirt. Viel war das nicht, von da oben im zweiten Stock. Da hockte, genau besehen, über mehrere Jahre hinweg ein fünfköpfiges, nachkriegsbedingtes Ärgernis aus Menschenfleisch, und auf beiden Seiten der Frontlinie war das kenntlich.
Und wie! Kein Tag verging ohne böse Worte, und bei diesem Spiel, dem Sich-das-Leben-gegenseitig-zur-Hölle-machen-Spiel, war der Großvater der Flüchtlingsfamilie dem jungen Seewirt weit überlegen. Er war Mitglied im neugegründeten VdK, dem Verband der Kriegsbeschädigten , und die hatten, auch noch nach zwei erfolglos und damit geradezu umsonst geführten Eroberungskriegen, einen guten Stand in der Wahrnehmung durch die Bevölkerung und deshalb auch in den Interessenabwägungen des sich gerade wieder festigenden neuen Staates. Und so wehrte der alte VdK-Schneider, wie er von Viktor gerne genannt wurde, alle Versuche des Seewirts ab, dieses unergiebige Zusammenleben durch eine Umquartierung der Flüchtlingsfamilie in eine assimilationskompatiblere Umgebung zu beenden. Und zwar nicht, weil es ihm im Seewirtshaus so gut gefallen hätte oder weil ihm das Seeklima so angenehm gewesen wäre, nein, im Gegenteil! Sondern allein wegen des süßen Gefühls, das ihn ein jedes Mal aufs Neue überkam, wenn er aus einer solchen Streiterei um die kleinen Karrees des Lebens wieder einmal als Sieger hervorgegangen war. Hier zeigte sich des Seewirts empfindsame und nicht zum Zuge gekommene Künstlerseele auf verlorenem Posten.
Oft sah man ihn dann, nach so einem niveaulosen und niederschmetternden Geplärr, wenn das ganze Haus wieder Zeuge eines Streits zwischen ihm und dem VDK -Schneider geworden war und oft auch noch die vor Schadenfreude dunkel geröteten Gesichter der Nachbarn über den Zaun herübergefeixt hatten, gedemütigt wie einen geprügelten Hund in den Stall schleichen und sein Lieblingspferd, den Kaltblutwallach Bräundl, vor den Gig spannen, auf dem er dann das Anwesen am See entlang in Richtung Süden verließ, um sich, weit außerhalb des Ortes, unter den hohen Bäumen des mächtigen Mischwaldes am Starenbach, innerlich aufrichten und wieder so groß fühlen zu können, wie er sich brauchte, um wenigstens mit sich selbst wieder einigermaßen zurechtzukommen. Gegen den komm ich nicht an, sagte er dann gerne nach dem Abendessen, das er genauso schweigend eingenommen, wie er den ganzen Tag zuvor beschwiegen hatte. Gegen den komm ich nicht an! Dieser Satz dürfte ziemlich genau seine Position in den meisten Auseinandersetzungen des gesellschaftlichen Lebens wiedergegeben haben.
Es war ein heißer Sommersonntag im Juli, als der Seewirt dem Viktor an den Katzentisch im schattigen und kühlen Hausgang des Seewirtshauses eine Halbe Bier hinstellte und dazu sagte: So, das geht jetzt mal auf mich, Herr Hanusch.
Der Viktor hatte als Angestellter des Gärtners Jäger eine Kiste voll Blaukraut nachgeliefert, nachdem der Vorrat für das Wochenende wegen einer unerwartet hohen Nachfrage nach Schweinebraten noch während der Mittagszeit schon wieder ausgegangen war – infolge eines grob irreführenden Wetterberichts im Radio, der für diesen Sonntag Regen vorausgesagt, der Tag jedoch prächtigen Sonnenschein und Gäste in rauen Mengen gebracht hatte. Der Seewirt hatte dem Viktor eigenhändig eingeschenkt und, wie schon gesagt, selbst serviert. Dann setzte er sich ihm gegenüber.
Gefällt Ihnen denn Ihre Arbeit beim Jäger?, fing er das Gespräch an. Die ruhige Art des Viktor und sein gesittetes Auftreten, verbunden mit einer – zumindest in dieser dörflichen Umgebung so erscheinenden – Weltläufigkeit, hatten es dem Seewirt angetan, und er konnte sich gut vorstellen, diesen Mann an sein Haus zu binden und ihm Arbeiten anzuvertrauen, für die andere weniger geeignet waren, weil sie zwar zugreifen, aber nicht unbedingt mitdenken konnten.
Nu ja, rückte Viktor nach langem Überlegen heraus, ob das nun wichtig ist, dass einem eine Arbeit gefällt oder nicht, das weiß ich jetzt auch nicht. Wichtig aber ist, dass man überhaupt Arbeit hat. Man muss ja über die Runden kommen, irgendwie, nicht?
Da haben Sie allerdings recht, antwortete der
Weitere Kostenlose Bücher