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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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mich noch hielt, warst du. Somit sei es zerschnitten. Bleib weiter hier im Haus, aber betrachte mich von jetzt an als deine fremde Gastgeberin, genau so, wie ich dich von nun an als fremden Gast, der du ja in Wirklichkeit immer warst, ansehen werde.
    Bei diesen letzten Worten umfasste sie den Kopf des Fräuleins mit beiden Händen, zog ihn zu sich herunter und drückte ihre Lippen für einen leisen, fast gehauchten Kuss auf des Fräuleins Stirn. Dann verließ sie die Halle in ewigem Abgang über Aufgangstreppe und Wendeltreppe und verschwand im Eheschlafzimmer. In der Diele stand das Fräulein unbeweglich und sah ihr nach und spürte die Stelle, auf die es geküsst worden war, wie ein Einschussloch im Kopf.
     
    Das Fräulein heulte die ganze Nacht ohne einen Laut, und sein Körper wurde stundenlang durchgeschüttelt wie eine leichte Jolle von einem Seesturm. Als es in der Früh seine Koffer packen wollte, um zu gehen, ohne genau zu wissen, wohin, fiel ihm auf, dass die Dienstboten immer noch in der Diele zusammenstanden, obwohl es bereits gegen acht Uhr morgens war. Da es sich in seinem verzweifelten Zustand dem roh gezimmerten Personal nicht zeigen wollte, fragte es durch die nur zum Spalt geöffnete Tür seines Schlafzimmers hindurch nach den Gründen. Die Gnädige Frau ist noch nicht erschienen, wurde ihm geantwortet. Ob man denn schon an ihrem Zimmer geklopft habe, fragte das Fräulein zurück. Nein, das habe man bisher noch nicht gewagt, war die Antwort.
    Nun entschloss sich das Fräulein zu dem Gang, den es eigentlich vermeiden wollte, damit seine heimlich geplante Abreise nicht noch zu einem vielleicht unschönen Gezerre verkomme. Es kleidete sich an, wischte, so gut es ging, die Tränen weg und schritt, mit von der Diele abgewandtem Gesicht und steifem Gang, bis zur Tür des Schlafzimmers seiner –
    Statt das letzte, nun undenkbare Wort zu denken, brach abermals ein stummes Schluchzen aus ihm heraus und schüttelte es heftig durch. So stand es vor der Tür zum Eheschlafzimmer und klopfte. Als ihm auch nach mehrmaligen leisen, ja nur geflüsterten Frau-Rittmeister-Rufen nicht geöffnet wurde, drückte es die Klinke langsam herunter und sah ins Zimmer. Die Rittmeisterin lag auf ihrem Bett, als ob sie schliefe. Ihr Gesicht war wachsbleich und schimmerte bläulich. Der Befund war dem Fräulein sofort klar, es wusste ihn schon, bevor es die Tür geöffnet hatte. Die Bestätigung seiner Ahnung brachte ihm sowohl Genugtuung als auch einen neuen, tiefen Schmerz ein, obwohl es davon die Nacht über schon genug erfahren hatte. Aber nun schien alles eine Logik zu haben, und im Fräulein breitete sich Sachlichkeit in einem Maße aus, wie es sie bisher an sich nie wahrgenommen hatte. Es schickte sofort nach dem Arzt, kleidete sich in der Zwischenzeit schwarz, und stand nun, als der Mann kam, mit furchtbar blassem Gesicht stumm daneben, bis der seine Untersuchung beendet hatte. Herzstillstand nach einer Thrombose im Gefäßkranz, diagnostizierte er und nahm das Stethoskop vom Hals. Da ist nichts mehr zu machen. Ich werde den Totenschein ausstellen und, wenn Sie es wünschen, Ihnen gerne beim Ordnen der Angelegenheiten behilflich sein. Damit verneigte er sich vor dem Fräulein und drückte ihm die Hand zur Beileidsbekundung.
     
    Die Einäscherung wurde, ohne dass auch nur die Weitsichtigsten unter den Beteiligten an so etwas gedacht hätten, zum letzten dörflichen Gemeinschaftsritual in Ort und Umgebung. Auf dem Friedhof türmten sich vor der Familiengruft der von Zwittaus die Kränze. Die weitverzweigte Verwandtschaft war angereist, sofern sie nicht fürs Vaterland kämpfte, und vor dem Friedhofstor und in der Kirche mischten sich Adel und Landarbeiterschaft genauso wie zum Totenessen, das in der großen Scheune ausgerichtet wurde und zu dem das ganze Dorf geladen war. So war es Brauch. Der Pfarrer und der Bürgermeister hielten Reden und lobten den Glauben und das soziale Gewissen der Verstorbenen. Einer von des Fräuleins Cousins, der früher einmal für die Gegend im Reichstag gesessen hatte, pries die familiären Verdienste der Rittmeisterin, und ganz am Ende beugte sich der Älteste der Dienstbotenschaft übers Grab und sagte: Im Namen aller Dienstboten lege ich diesen Kranz nieder, und ließ seinen Worten unvermittelt die Tat folgen.
    Das Fräulein trat seinen Brüdern und deren Frauen und Kindern mit einer für diese befremdlich wirkenden Reserviertheit gegenüber, ohne dass jedoch viel nachgefragt wurde. Alle

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