Mittelreich
angelockt hat, auf die Teller verteilen. Dann wird es den Kindern auf deren Wunsch hin wieder die immer gleiche Geschichte erzählen, von deren Ururgroßvater nämlich, der, als er gestorben war, in den Himmel kam, wo er es nicht aushielt, so groß war sein Heimweh, und der deshalb den Petrus bat, wieder auf die Erde zurückzudürfen. Der genehmigte nach langem Zögern dieses außergewöhnliche Begehren, und so kam der Ururgroßvater wieder die Himmelstreppe herunter, Stufe für Stufe, wurde kleiner und kleiner, bis er, über eine der drei großen Fichten, die den Picknickplatz umstanden, schließlich wieder die Erde erreichte. Und da sitzt er nun wieder, wird das Fräulein am Ende sagen und mit dem Finger auf eines der Kinder des Seewirts zeigen, auf jenes nämlich, dessen Gesicht dem Gesicht des Ururgroßvaters auf einem Gemälde des Malers Colombo verblüffend ähnlich sieht. Und während die anderen Kinder ihren Kopf zu dem einen Kind hin drehen und es bewundernd und neidisch anstarren werden, wird das Fräulein mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner linken Hand sanft über den Ringfinger seiner rechten Hand streichen, über die Stelle, auf der der Ehering als schlichtes, aber ewiges Panier bis zu des Fräuleins Tod stecken würde, wenn der Krieg nicht alles zugrunde gerichtet hätte. Ein leichtes Lächeln im Gesicht wird die aufkommende Trauer tarnen, und verschwommen, hinter einem unmerklichen Tränenschleier, wird es sich in den Kindern des Seewirts für einen kleinen Augenblick lang die eigenen, ungeborenen, weil von Gott zurückbehaltenen Kinder träumen. Das eine Kind wird unter diesen seltsam starrenden, bei seinen Geschwistern missgünstigen, beim Fräulein sehnsüchtigen Blicken rot und stolz werden und seine Sonderstellung eines Wiedergeborenen mit Erfolg sein Leben lang leben und verwerten.
In der Küche hantiert das Fräulein Zwittau.
Gelegentlich wischt es sich, jetzt, wo es gerade alleine ist, eine Träne aus dem Gesicht. Das Fräulein ist das jüngste Kind einer in den letzten Tagen des Krieges aufgeriebenen ostpreußischen Adelsfamilie. In einem mittleren Gutshaus hatte es sein vorheriges Leben in einem vergleichsweise bescheidenen, aber immer noch mehr als ausreichenden Wohlstand verbracht. Der Vater diente als Rittmeister im kaiserlichen Heer, später als Oberst in der Wehrmacht, und die Mutter dirigierte eine Dienstbotenschaft aus fünf Mägden und zehn Landarbeitern. Des Fräuleins Geschwister, es waren Brüder, waren alle früh aus dem Haus gegangen und hatten geheiratet, und nur das Fräulein blieb auf dem Gutshof zurück, nachdem sein Bräutigam und die einzige Liebe in seinem Leben, der pommersche Reiteroffizier Baron von Kleist, gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs gefallen war. Das Fräulein diente dem Schöngeistigen, malte kleine Landschaftsbilder, las nahezu alle Bücher von Fontane, Novalis und Kleist, Goethe und Wilhelm Busch (die las es nur im Verborgenen, denn die Mutter liebte diese Bücher nicht bzw. diese Hefte, denn meist waren es Volkskalender, in denen die Zeichnungen und Verse dieses Kinderverderbers abgedruckt waren, und die waren ihrer Mutter zu grobschlächtig und zu nahe am Rande des guten Geschmacks), stickte zwischendurch weiße Zierdeckchen und häkelte, wenn Schwermut oder Einsamkeit es niederzudrücken drohten, Wollknäuel um Wollknäuel zu allerlei brauchbaren, wärmenden Kleidungsstücken zusammen. Und wenn seine Geschwister mit ihren Familien zu Besuch waren, widmete es sich von morgens bis abends und oft auch noch nachts – dann, wenn die Brüder mit ihren Gattinnen zu Abendveranstaltungen in der näheren Umgebung geladen waren, die es selber lieber mied – mit Freude und Hingabe deren Kindern. Das Fräulein war sanft, gebildet, hingebungsvoll und nur ein bisschen verschusselt. Aber nur ein kleines bisschen. (Es gab zum Beispiel manchmal, was vor allem den Kindern des Seewirts auffiel, auch den Kühen ein Stück Zucker, nicht nur den Pferden. Oder es sagte zu Impen und Wespen Bienen und zum Bulldog Trecker und so weiter.) Es betete die täglichen Gebete der Protestanten und verfügte über die guten Manieren der besseren Gesellschaft. Immer schien es ein bisschen weggetreten zu sein und in Gedanken. Diese Gedanken aber, die Gedanken seines Lebens, galten bis zu des Fräuleins Tod dem gefallenen Bräutigam.
Nach dem Tod des Vaters, der sich im vierten Jahr des zweiten Krieges einer militärischen Widerstandsorganisation angeschlossen hatte, die
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