Mittelreich
Begriff des alten Försters benütze, der schon lange tot ist: Flinte. Vielleicht weil der mir immer so vertrauensvoll vorkam, wenn er einen Fasan oder ein Rebhuhn vorbeibrachte. Der alte Förster wusste, dass die Ziehmutter nichts lieber aß als das Fleisch dieser Vögel. Der Ziehvater sagte zum Schießgewehr nie Flinte, der sagte immer Pulversäbel. Und lachte grob. Jetzt merkt das Fräulein, dass es von diesem Lachen eigentlich immer erschreckt worden ist. Mehr: Von diesem Lachen fühlte es sich angewidert. Dass mir das erst jetzt auffällt? Es denkt: Ich hab ganz bestimmt auch heute wieder alles recht gemacht und bin trotzdem voll Zweifel: Hätte ich es besser machen können?
Jetzt bewegt sich der Soldat. Er nimmt die Flinte von der Schulter. Von links kommt ein zweiter Soldat ins Blickfeld. Am östlichen Rand des Obstgartens schwingt sich einer über den Zaun. Auch der hält seine Flinte in der Hand und ist grau und stumm wie die andern. Durch das geschlossene Fenster, hinter dem das Fräulein steht und noch immer nicht weiß, warum die Soldaten nicht starr sind, wie alles andere da draußen auch, hört es Sprechlaute. Verstehen kann es nichts. Das Sprechen klingt entfernt und gedämpft. Wie durch Watte in den Ohren. Links unter dem Fenster, es muss direkt vor dem Haupteingang sein, sieht das Fräulein eine ganze Traube Soldaten beieinanderstehen ...
Mit einem Schlag ist es hellwach und voll Angst. Es hört, wie unten mit einem harten Gegenstand laut an die Tür geschlagen wird. Rufe hört es, kann aber nichts verstehen. Jemand geht am Zimmer vorbei die Treppe hinunter. Das kann nur der Oleg sein, denkt das Fräulein, der älteste der Landarbeiter, den das Fräulein gebeten hatte, künftig im Haupthaus zu schlafen, nachdem die Ziehmutter gestorben war, weil es nun ganz alleine war, das Fräulein, in diesem gro ßen Herrenhaus. Er wird doch nicht die Haustüre aufmachen wollen!
Das Fräulein rennt vom Fenster weg zur Schlafzimmertür und öffnet sie einen Spalt weit. Oleg, Oleg, ruft es gedämpft, wo willst du hin? – Ich werde müssen die Tür aufschließen, gnädiges Fräulein, sagt der Oleg. – Das wirst du auf keinen Fall tun, antwortet das Fräulein, du öffnest die Türe nicht. Ich verbiete es Ihnen. – Dann werden die die Tür eintreten. Das sind Russen, sagt der Oleg. In dem Moment reißt das Schloss der massiven Eichentüre in der Halle unten aus der Fuge. Der große Türflügel schwingt auf und schlägt scheppernd an die Wand. Die Soldaten drängen herein. Es sind ungefähr zehn, die sich erst einmal umsehen. Oleg ist jetzt unten und spricht mit ihnen in der fremden Sprache. Dann stoßen sie ihn ein paar Mal hin und her. Das Fräulein sieht alles durch die immer noch nur zum Spalt geöffnete Schlafzimmertür. Oleg kommt ein paar Schritte die Treppe herauf und sagt: Die möchten Sie sprechen, gnädiges Fräulein. Ich hab sie nicht können davon abhalten.
Jetzt haben auch die Soldaten gesehen, wo das Fräulein sich verborgen hält. Einer kommt an Oleg vorbei herauf bis zum Salon. Von da aus spricht er mit dem Fräulein, das immer noch eine Etage höher durch den Türspalt schaut: Du Warme hier, sagt er, schön warme. Wir auch wollen warme. Draußen sehr kalte. Bisschen trinken, du, haben Trinken? Wodka für Genosse. Genosse frieren. Brauchen Wodka. Und tanze mit dire. Komme! ...
So spricht der Soldat. Es ist der reine Horror. Das Fräulein weiß nicht, was es tun soll, und sperrt die Tür ab. Keine fünf Sekunden später klopft es, und der Russe sagt: Nixe zusperre! Du! Nixe! Sonst Türe kaputte! Das Fräulein hat drin die Decke vom Bett genommen und hält sie sich vor den Körper. So steht es neben dem Bett an der Wand, als die Tür auffliegt und der Russe hereinkommt. Er lacht übers ganze Gesicht. Freilein Freilein, gluckst er, scheene Freilein, komme tanze! Und klatscht in die Hände und tänzelt das Fräulein an. Immer wieder dreht er sich im Kreis vor ihm. Dann geht er auch noch in die Hocke und macht das beineschmeißende Kosakending. Einer, der nichts auslässt, könnte das Fräulein denken. Aber so denkt es nicht. Es ist schon ziemlich matt.
Immer näher kommt der Soldat, immer näher tänzelt er heran und schaut von unten frech herauf. Irgendwann wird er da sein. Als es so weit ist, kann das Fräulein den Blick nicht mehr woanders hinrichten und schaut ihm direkt in die Augen.
Später wird es sich daran als an den schlimmsten Augenblick des gesamten nun folgenden Geschehens
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