Mittelreich
erinnern.
Des Fräuleins Augen verkrampfen und lassen sich nicht mehr bewegen. Es kann den Blick nicht mehr senken und muss weiter dem Soldaten in die Augen schauen. Das erzeugt einen krampfartigen Schmerz in den Augenhöhlen. So stehen sie voreinander. Bewegungslos. Auch der Soldat schaut dem Fräulein in die Augen. Aber anders als das Fräulein ihm. Seine Augen lachen, und sein Blick wird immer leichter. Als dann seine Finger fast zärtlich den linken Oberarm des Fräuleins greifen und er mit seiner andern Hand unglaublich vorsichtig die Decke aus des Fräuleins Fingern löst, die es immer noch krampfhaft festhält, gibt er gar keinen teuflischen Anblick.
Ein Russe im Land ist wie der Teufel im Paradies.
Seit Generationen hält dieses Diktum sich. Auch das Fräulein hat davon gehört. Wenn es diesen Alkoholgeruch aus seinem Mund nicht gäbe, denkt es gesittet, wäre diese Berührung eine Liebkosung. Und spürt im nächsten Moment, gerade als es endlich den Kopf vom Russen wieder wegdrehen kann und den angenehmen Atem des Barons von Kleist zu wittern glaubt, wie der eigne Atem aussetzt. Es ist zu viel: Das Fräulein hyperventiliert ...
... geradeso, wie fast zur gleichen Zeit, 2000 km weiter westlich, die Theres auf dem Lothof hyperventiliert. Die Theres aber, wie man weiß, sie riss sich los und flüchtete ...
Das Fräulein erstarrt nun ganz und ist vom Überschwang des Schreckens wie gelähmt. Deshalb wird es nicht ersticken. Sein Körper ist durch die Lähmung stillgestellt und wird nicht mehr verkrampfen. Die verstockten Atemwege fangen wieder an, sich allmählich zu lösen, und die Atmung setzt langsam wieder ein. Das Fräulein ist dennoch steif wie ein Stock, als der Russe nach ihm greift, es sorgsam auf die knochendürren Arme nimmt und vorsichtig die beiden Treppen aus dem Oberstock nach unten trägt – und wirkt im weißen Hemd aus Rüschelchen und Schleifen auf die nach oben starrenden Soldaten wie ein zum Öffnen ladendes Geschenkpaket, das Fräulein.
Auf dem letzten Absatz bleibt der sanfte Russe stehen und wirft das steife Fräulein auf den am nächsten vor ihm stehenden Soldaten. Geschickt fängt der es auf und wirft es weiter in die Arme seines Nachbarn. Der macht das Gleiche und der Nächste auch. Bis einer, der Siebte ist es in der Folge, das Fräulein auf den Tisch legt und beginnt, es auszupacken. Die andern bilden einen Kreis herum und schauen zu. Einer witzelt. Einer lacht. Der Rest der andern glotzt und schweigt, während der Siebte, sachgerecht, das Leinennachthemd langsam öffnet mit dem Bajonett, das ein anderer schon von seinem Schießstock abgeschraubt und es als seinen Beitrag zum Genuss des dargebotenen Präsents auf der noch zugedeckten Scham des Opfers abgelegt hat.
Auch Oleg steht dabei und schaut mit stieren Augen hin. Ihm ist nicht wohl dabei. Er schämt sich. Er kennt das Fräulein anders. Doch tut er so, als schaue er so wie die andern, um unentdeckt zu bleiben als der einzig Blinde unter den Kyklopen. Denn die andern glotzen nur mit einem Aug: Das Fräulein ist schon alt, und nur was über ist davon, ist auch noch Frau. Also nicht mehr viel. Da ist man zwar dabei, doch eher halb. Auch ist das erst der Anfang von der Arbeit, die jetzt Beutemachen und Erobern heißt. Vorher hieß sie noch Geschlachtet-Werden, Hungers Sterben oder Kämpfen. Man hat gekämpft und überlebt. Jetzt will man seinen Teil. Auf die fette Beute hofft man noch, und die karge Zeit davor war lang. Für Menschen viel zu lang. So nimmt sich mancher vorerst noch, was kommt, und ist nicht wählerisch, wo eine Wahl nicht ist. Wenn auch manchmal nur mit halber Kraft. Dass die Sache dennoch kitzelt, dafür braucht es jetzt die Zeit und den Gebrauch des Bajonetts als Feder.
Das Fräulein hat die Augen offen. Starren Blickes schaut es auf den großen Lüster, der über ihm schwer von der Hallendecke hängt. Wer denkt sich solche Worte aus, denkt es: Lüster? Und wieso denke ich jetzt Worte und Bedeutungen? So genau hat es sich den Lichtquell noch nie angesehen. Und wie groß und schwer er von der Decke hängt, und wie er glänzt und prall ist, weil er so erleuchtet ist! Auch das ist mir nie aufgefallen. Seit Jahren ist kein Fest mehr hier gefeiert worden in dem Haus. Nur um sich zurechtzufinden in dem Raum, brannten, wenn es dämmerte, vier schwache Leuchten in den Ecken, und fürs Lesen reichte leicht die umgebaute Lampe aus, die ich mir von Oleg an den Tisch beim Kachelofen stellen ließ. Über mir
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