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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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kannten das innige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, keinem der Brüder und keiner von deren Frauen war die Veränderung der letzten Wochen im Verhalten der Mutter ihrer Tochter gegenüber aufgefallen, und deshalb machten alle den Schmerz über den Verlust für das abweisende Verhalten der Schwester verantwortlich.
    Am Abend jedoch baten die drei Brüder ihre Schwester zu einem notwendigen Gespräch unter Geschwistern. Das Gut war jetzt ohne Verwaltung, und man wollte wissen, ob die Schwester diese schwierige Aufgabe zu übernehmen gedenke, ja überhaupt dazu in der Lage sei, oder ob man einen professionellen Verwalter bestellen solle. Doch zu aller Überraschung und unter sofortiger Auslösung großer Skepsis stellte das Fräulein klar, dass es die Übernahme des Verwaltungsgeschäfts versuchen wolle. Man möge ruhig weiter den eigenen, auswärtigen Geschäften nachgehen. Hier im Haus und auf den Ländereien werde es nun selbst, das Fräulein, das Ererbte weiterführen. Jede Sorge sei unbegründet, es habe in den letzten vierzig Jahren genügend Gelegenheit gehabt, den Umgang der Mutter mit dem Personal zu studieren, und genauso, wie es die Mutter vorgemacht habe, werde es jetzt selbst weitermachen. Alle vier Wochen, jeweils zum Monatswechsel, würde es eine genaue Abrechnung über Eingaben und Ausgaben vorlegen, so dass eine gerechte Verteilung der Erträge unter den Geschwistern durchgeführt werden könne.
    Mit dieser klaren Ansage gab man sich vorerst zufrieden. Man wollte abwarten, wie sich das Angekündigte entwickeln würde, und nach einem Jahr weitersehen.
    In den folgenden Wochen widmete sich das Fräulein ganz seinen neuen Aufgaben. Es dirigierte, wie zuvor seine Adoptivmutter, die Dienstbotenschaft, und obwohl ihm im Laufe der Zeit eine wachsende Aufsässigkeit vor allem der polnischen Landarbeiter entgegenschlug, schaffte es das Fräulein, sich durchzusetzen und die erste Abrechnung seinen Brüdern zu deren Zufriedenheit vorzulegen. Es begann allmählich, die melancholischen Gedanken an den toten Bräutigam zu vernachlässigen und ganz in den Forderungen, die die Verwaltungsarbeit verlangte, aufzugehen.
    Und wie jedes Jahr wurde auch in diesem Herbst die Getreideernte eingefahren, und die Obstbäume wurden abgeerntet, in den Wäldern wurde das Brennholz für den nächsten Winter geschlagen; und auch in diesem Herbst fegten gewaltige Stürme übers Land, unter denen die Bäume sich bogen und ihre Blätter abschüttelten, auf dass der baldige Schnee ihnen keinen Schaden zufügen könne. Und auch diesem Herbst folgte eiskalt der Winter.
     

     
    Es ist ein Uhr nachts. Das Fräulein steht am Fenster seines Schlafzimmers. Es ist gerade aufgewacht. Um elf Uhr ist es ins Bett gegangen, todmüde, wie jeden Tag, und sofort eingeschlafen wie jeden Tag. Die Tage sind für das Fräulein zermürbend, ohne dass es ihm auffällt. Es spürt die Müdigkeit erst, wenn es sich selbst Rechenschaft für den vergangenen Tag abgelegt und die Aufgaben für den kommenden Tag bis ins Kleinste vorausgedacht hat. Dann schläft es auf der Stelle ein und wird bald wieder geweckt vom Zweifel. Das geht so, seit es die Verantwortung für das Gut übernommen hat. Wie gerne wäre ich jetzt melancholisch, denkt es manchmal, wenn es sich spät am Abend ins Bett legt. Und merkt schon im selben Moment, wie der Schlaf es noch während des Gedankens übermannt. Früher dachte es oft: Warum bin ich nur immer so melancholisch. Das hat das Fräulein jetzt hinter sich. Vorerst.
     
    Das Fräulein hat ein Loch in die Eiskristalle der zugefrorenen Fensterscheibe gehaucht und schaut durch dieses hineingehauchte Loch hindurch hinaus nach draußen, ins Freie. Da ist völlige Stille Kälte Starre draußen. Das Totenreich, denkt es, ich schau ins Totenreich. Es ist halb dunkel und grau überm Schnee. Alles ist still und starr und grau unter einem blassen Mond: das Vordach, der Nussbaum, der Zaun, die Apfelbäume, die Gartenbank, der Birnbaum, die Buche, die Terrasse, der Holunderstrauch, das Gartenhäuschen, die Büsche, die Flinte, die Schulter, der Soldat. Am frühen Abend hat das Fräulein auf dem Thermometer, das am Eingang des Haupthauses angeschraubt ist, minus 18 Grad Celsius abgelesen. Das ist keine ungewöhnliche Temperatur für den 11 . Januar. Trotzdem ist es beißend kalt. Aber das Fräulein friert nicht. Die Erregung, die es nicht schlafen lässt, wärmt es gleichzeitig.
    Es ist komisch, denkt das Fräulein, dass ich immer noch den

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