Mittelreich
gehen, nähert sich der Seewirt immer konsequenter einem tatenobsoleten Wenn und Aber an, ge fährlich ist es auch noch für den Viktor und den Valentin, weil auch der Fremdenstall was abbekommen kann. Doch die könnten auch im Tennenboden oben einmal eine Nacht verbringen. Man müsste ihnen nur zwei Pferdedecken geben, dass es ihnen nicht zu kalt wird in der kalten Nachtluft oben. Und nur die Mare könnte bleiben, wo sie ist. Ja. Das müssten wir machen. Aber wer von all den Leuten hört mir denn jetzt noch zu? Die sind doch alle schon beschwipst, und keiner würde mir jetzt folgen. Die würden lachen und sich freuen über meine Sorgen, und ich, ich wär hernach der Depp.
Ja, er ist verzweifelt. Er weiß tatsächlich nicht, was er jetzt machen soll. Er weiß nur, dass es um die Unversehrtheit ihm anvertrauter Menschen geht, vielleicht sogar um Leben und um Tod – und weiß nicht, was er machen soll. Abgeschaltet und zerrüttet steht er da vor seiner Frau, mit Tränen in den Augen grad wie sie. So stehen beide in der Küche voreinander und schauen sich gegenseitig in die leeren, doch tränenvollen Augen, hilflos und allein – denn die Hertha hat sich auch davongemacht und schaut dem zügellosen Faschingsvolk im blutbespritzten Kochgewand, nach Fett und Holzbrand stinkend, mit sehnsuchtsvoll verklärten Blicken von der Saaltür aus beim aufgedrehten Treiben zu. Und die beiden Wirtsleute fühlen sich in ihrem schuldlos aufgezwungenen, doch unschuldslosen Hilflos-Sein erst recht einander zugehörig und verbunden.
Wie sie da so nahe beieinanderstehen, einander anvertraut und liebgeworden, und doch nicht wissen, was zu tun ist, geben sie das Bild der Überflüssigkeit von Harmonie im Überlebenskampf und somit – könnte man so sagen? – der Überflüssigkeit des Lebens selbst? Denn was derart hilflos eigenes und anderer Sein gefährdet, kann Repräsentant unerlässlicher Notwendigkeit nicht sein. Doch wo liegt der Sinn? Ein Sinn entstünde, wenn man wüsste, dass in einer fernen Zukunft alles machbar wäre, was bisher noch Naturgesetz und Zufall ist, und damit auch verhinderbar, dachte in diesem Moment der Seewirt. Ach ja.
Und um der vor wenigen Jahren noch geübten Praxis, eigenem und fremdem Tod am besten mit verschlossnen Augen standzuhalten, auch noch den Stempel ungebremsten Gottvertrauens aufzudrücken, geht die nicht mehr ganz so junge Mutter jetzt ins Kinderzimmer nebenan und weckt die Kinder auf. Das kleine Mädchen nimmt sie auf den Arm, das größre und den Buben bei der Hand und schleppt die noch vom Schlafen Trunkenen durch eine aufgeputschte Faschingsmeute nach oben in den ersten Stock ins Elternzimmer, legt sie alle in das frisch bezogne Ehebett, das, schon vorgewärmt von einer kochend heiß mit Wasser abgefüllten Steinhägertonflasche zum ungestörten Weiterträumen lädt, bettet alle drei, voll Zuneigung und Liebe, mit einer bauchig schweren Plumeaudecke zu und legt sich selbst daneben – und findet einen warmen Trost und irdische Gerechtigkeit in ihrem tief von ihrer Schwägerin verletzten Innern. Sie denkt nicht an den Baum und hört nicht mehr den Sturm, ihren eignen Kosmos wölbt sie, sich und was ihr lieb ist damit schützend und behütend, wie die Felsendecke einer Höhle über sich: Was jetzt noch kommt, ist gottgewollt.
Nur zehn Meter über diesem eingefleischten Gottvertrauen bekämpft der Sturm mit unerhörter Kraft den Baum.
Die Uhr hat sich inzwischen auf zwei Uhr vorgeschoben, ein Teil der Gäste ist schon aufgebrochen, andre hadern noch, und wieder andere sind zur Entscheidung nicht mehr fähig oder nicht bereit. Dem Seewirt wird jetzt Überzeugungsarbeit abverlangt. Er geht, was sonst so seine Art nicht ist, von einer morschen Maske zu der andern und bittet das, was noch verständig ist dahinter, doch bitte bald den Aufbruch zu erwägen. Es sei noch eine Menge Aufräumarbeit zu erledigen, die Kellnerinnen müde, die Geduld verbraucht. Keiner könne länger, als ein Tag ihn lässt, sich seines Schlafs entledigen und er, als Wirt, müsste jedem bei ihm Angestellten geben, was ihm nun mal zusteht. Das sei so Brauch. Drum bitte, Fräulein Meinrad, gehen Sie jetzt auch.
Da aber schiebt die Meinrad ihren altgewohnten und noch immer ungebrochnen Hitlerblick wie eine spitze Nadel durch den Seewirt durch – bis zu seinem Kamm. Der schwillt. Dann legt sie ihre linke Hand auf seine rechte Schulter, nah am Hals, und grault ihm mit den Fingern den gesträubten Nacken, so dass der
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