Mittelreich
des Herrn Bonvivant, erläutert ihr das Fräulein Zwittau, ihre Untermieterin von nebenan. – Ach, die Frau Meinrad ist das, sagt, wie ausgewechselt im Gemüt, die sonst so unnachgiebig strenge Sittenpolizistin freundlich, ausgewechselt wie ein alter Hunderter zu einer nagelneuen Mark, die hätte ich jetzt beinah nicht erkannt in der Verkleidung! Ha! Das ist ja ein gelungenes Kostüm! Wie die verkleidet ist. Als Mann! Ha! – Amüsiert bis in die steifen Knochen, wendet sie sich ab und ist sich sicher, dass es keiner moralischen Vermittlung mehr bedarf. Der Herr Arthur Bonvivant ist ein weltberühmter Mann. Es gibt Leute, die kommen nur hierher, weil sie von der Straße aus mal in den Garten schauen wollen, in dem das Gartenhäuschen steht, von dem aus die berühmten Honigbienen des Herrn Bonvivant in die ganze Welt geflogen sind. Und dass der vielbeschäftigte Herr Bonvivant nirgends mehr Verwandte hat, das spielt da keine Rolle mehr.
Unter dem Bierfass hat sich eine Pfütze gebildet, und die Kellnerinnen tragen das Nass mit ihren Schuhen in den Hausgang hinaus, wo die Toilettengeher es weiter tragen und mit Staub und Urin vermischen zu dreckigen Spurenmalereien auf dem Pflaster, das in diesem Zustand schon die Zukunft einer maßlos überforderten, sich ständig wegen seiner eigenen Güte selber feiernden Gesellschaft zeigt: Wer ist am besten verkleidet? Wer kann den meisten Spaß? Wer hält am längsten durch? Wem kann was am wenigsten anhaben – und wer ist dabei auch noch politisch korrekt?
Doch noch ist es nicht so weit.
Der Seewirt geht direkt zur Küche, wo die hohen Stapel abgeernteten Geschirrs, leer gegessen bis zum letzten Brocken, bereits gespült und schon wieder in die Küchenschränke eingerichtet sind und auch der Ofen schon allmählich am Verglühen ist. Die Hauptmahlzeit ist nun vorüber. Auf die Tische werden jetzt nur noch Getränke und die kleineren, die späten Mahlzeiten hingestellt: die kalten Ripperl, Saftwürste und Wurstsalate, manchmal auch schon ein erster Bismarckhering und ganz selten nur noch ein Apfel- oder Käsekuchen. Der Ball hat seinen Siedepunkt erreicht. Was jetzt noch kommt, kann nur der Abglanz sein. Gerade ist die furchtbar aufgekratzte Schneideranderllies, die Frau des Glasermeisters Andres Schneider, eine, die sonst das ganze Jahr nicht in ein Wirtshaus geht, um das hart verdiente, neue Geld zusammen und in Zins zu halten und es ja nicht aus dem Fenster rauszuschmeißen, die ist in der Küchentüre aufgetaucht und hat laut nach einem Prinzregententortenstück verlangt. Beim mittlerweile achtzig Jahre alten, schon sehr sanft gewordenen Lot von Eichenkam hat es im einen Ohr drin so zu jucken angefangen, dass er nach einem Zündholz kramen muss, um sich Erleichterung zu schaffen. Die aufgedrehte Schneideranderl-Frau ist derweil schon wieder ins Getümmel weggeschwommen.
Der Lot war nur für einen Augenblick lang in der Küchentüre aufgetaucht, um seiner Tochter, der Frau des Seewirts, einen warmen Blick zu schenken, die mit ihren schönen, makellosen weiblich runden Körperformen und erhitztem Kopf am Spültisch steht und des Vaters Schauen dankbar fühlt, denn die Spannung zwischen ihr und ihrer Schwägerin, der Hertha, die immer noch am Ofen steht und ebenfalls mit ihrem teigig weichen Mopsgesicht den Kopf rot leuchten lässt, hat schon wieder einen solchen Überschuss an gerade noch zu meisternder Erträglichkeit erreicht, dass bei der Seewirtin die Tränen hinter ihren Augen Reih und Glied in Schlange stehen und nur noch schwer zurückzuhalten sind.
Der Seewirt hat Augen dafür, wie er jetzt zu ihr hingeht, aber ein anderes Thema. Ich fürchte, sagt er, wenn der Sturm nicht nachlässt und so weiter haust, dass dann auch die andre Eberesche nicht mehr lange standhält und aufs Hausdach fällt, und deutet ihre aufgestauten Tränen um als Ausdruck ihrer Sorge um das Leben ihrer Kinder und das Haus. – Um Gottes willen! Was willst du machen, sagt die Frau. – Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß es leider wirklich nicht. Ich müsste eigentlich den Ball beenden und die Leute allesamt nach Hause schicken, dass denen nichts passiert, und wir müssten hinten in den Saal drei Betten stellen und uns mit den Kindern da zum Schlafen legen, denn so weit hinter reicht der Baum in seiner ganzen Länge nicht. – Ja, das müssen wir machen, sagt sie, und ist froh um die Problemverlagerung. – Die Schwestern müssten überm Saal im zweiten Stock zum Schlafen
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