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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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verinnerlichten Scham. Und deshalb fühlte sie sich, obwohl bekleidet, selbst vollkommen nackt, als plötzlich der nackte, tropfnasse Ziegltrum direkt vor ihr dem Wassergrand gleich gegenüber dem Futterbarren des Pferdestands entstieg, seinen Weg nah an ihr vorbei in Richtung Haupthaus nahm und sie, ob ihrer sichtbaren Fassungslosigkeit, im Vorbeigehen anraunzte: Ich bin komplett, ja und? Weil ich mich gerade kalt abgespritzt habe. Und das geht nur komplett. Davon stirbst du schon nicht. Betest halt ein Vaterunser.
    Erst Tage später, immer noch unter Schock, wagte sie der Seewirtin diese Begegnung zu gestehen und beendete ihren Bericht mit den folgenden Worten: Ich habe mich so geschämt, das darfst du mir glauben. Weil so was hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Kannst du den Herr Pfarrer bitten, dass er hierher kommt und mir die Beichte abnimmt. Selber schaffe ich es nicht mehr bis nach Kirchgrub hinauf. Das machen meine Füße nicht mehr mit. Aber ohne Beichten trau ich mich nicht weiterleben.
    Zwei Tage später hatte der Pfarrer Zeit und nahm ihr in ihrer Kammer die Beichte ab. Der Lux, dachte sie, wäre er noch am Leben, hätte jetzt unter meinem Bett gelegen und zugehört. Er hätte leise gewinselt, weil er aus meiner Stimme die Scham und die Reue herausgehört hätte. Und das hätte ihn beunruhigt.
    Später ging der Pfarrer dann auch zum Hans Ziegltrum ins Zimmer. Er machte mit ihm einen wichtigen Termin aus: Ein neuer Papst werde in Kürze gewählt, und dessen Krönung beizuwohnen, wolle der Pfarrer allen Schülern der Volksschule Kirchgrub durch das neue Medium Fernsehen ermöglichen. Es gäbe bisher nur drei solcher Geräte in der Gemeinde und eines davon sei das des Herrn Ziegltrum. Angesichts eines solchen Ereignisses müssten private Gründe vorübergehend hintangestellt werden. Er rechne also fest mit einer Zusage des Herrn Ziegltrum.
    Die erhielt er schließlich in Form eines unverständlichen Murmelns.
     
    Es war zweifellos ein denkwürdiger Tag, als am 4 . November 1958 in Rom der neue Papst Johannes XXIII . gekrönt wurde. Schon im Vorfeld des Ereignisses war überall in den katholischen Pfarreien, und nicht nur in Italien, gemunkelt worden, dass diesmal die Wahl wohl lange dauern werde. Nach dem Tod des alten Papstes, über den der Seewirt bei jeder Gelegenheit, die sich ergab – etwa wenn beim Mittagessen nationalsozialistisches und christliches Gedankengut miteinander verglichen und Unvergleichbares mit Vergleichbarem aufgewogen wurde –, sagte, er sei ein Glücksfall für die Deutschen gewesen, dieser Papst, jedoch ohne eine ausführlichere Deutung dieses Satzes anzubieten – nach dem Tod dieses Papstes Pius, der einerseits erwartet werden durfte, weil der Mann schon die achtzig überschritten hatte, der aber andererseits trotzdem überraschend kam, weil das Gesicht dieses verehrten Mannes auf jedem Bild so alterslos aussah wie etwa der Giftzahn einer Schlange – nach dem Tode dieses Papstes also waren sich viele Leute gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt noch einen Papst haben wollten, so sehr hatten sie diesen Mann als Reinkarnation des Gründers der Kirche Petri empfunden und verehrt. Und als dann das Rätseln über seinen möglichen Nachfolger begann, wurde ein Name immer wieder ins Spiel gebracht, der einige Leute so sehr abschreckte, dass ihnen ein Ende des Papsttums erträglicher schien als die Einsetzung eines solchen Mannes in dieses höchste Amt der katholischen Kirche – früher sogar der gesamten zivilisierten Welt. Der etwas untersetzte, gutmütig dreinschauende dickliche Mann, der einer Frau ähnlicher sah als einem Vertreter seines Geschlechts und der tatsächlich dann auch zum Papst gewählt wurde, der entstammte einer armen, vielköpfigen Bauernfamilie aus dem Raum Bergamo und forderte in seinen Predigten als Kardinal die soziale Gerechtigkeit. Diese Forderung, verpackt in zwei unscheinbare, ja fast überhörbare Worte, erzeugte in manchen weltlichen Kreisen eine geradezu groteske Erregung. Staat und Kirche seien in der Demokratie getrennt und daran hätten sich auch Vertreter der Kirche zu halten, hieß es, und dieses Credo wurde gerade von den Spitzen jener neuen Parteien, die das christliche C in ihrem Namen trugen, mit besonders schrillem Klang verkündet.
    Gerade vor noch nicht einmal zehn Jahren erst war auf deutschem Boden noch ein zweiter Staat gegründet worden, dessen gesellschaftliche Verfassung im Vergleich zum legitimen Staat auf demselben

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