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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Gedanke mehr und kein Gewissen und nichts Gewesenes mehr, und eine nie erlebte Sehnsucht wie eine Wolke sich um sie legte und sie mitnahm ... hin zum Heiligen Stuhl ... und sie einschweben ließ in die kleine Öffnung des Fernsehers und durch diese hindurch hinüber in die sich grenzenlos weit öffnende Unendlichkeit Trost spendender Einbildungskraft.
     
    Als die Krönung zu Ende war und die Lehrerin die Schülerinnen und Schüler zum Gehen aufforderte, legte der Seewirt den Zeigefinger seiner rechten Hand an seinen Mund und sagte: Pscht! Leise hinausgehen, Kinder! Die Mare ist eingeschlafen. Dass ihr sie nicht aufweckt. Auf Zehenspit zen schlichen daraufhin alle Buben und Mädchen vorbei am Lehnstuhl, schauten stumm oder mit pfiffigem Gesicht in das lächelnde Gesicht der sanft ruhenden Mare, sie alle, die um sie herum lebten und Welt in sich trugen und nun schon wieder auf dem Heimweg waren in den Schoß ihrer Familien.
     
    Was soll ich jetzt mit der da herin?, fragte der Ziegltrum den Viktor, als alle gegangen waren und auch der gegangene Seewirt ihn nicht mehr hören konnte, und deutete auf die Mare. Denn eigentlich wollte er jetzt damit beginnen, in seinem schändlich ramponierten Zimmer den Vorkriegszustand wiederherzustellen, wie er sagte.
    No, am besten wird sein, Sie lassen sie noch ein bissl schlafen. Wenn sie wird aufgewacht sein, geht sie von selber rüber in ihr Zimmer.
    Na, na, sagte der Ziegltrum barsch, das kommt gar nicht in Frage. So lang lass ich die nicht da herin. Ich geh nach der Stallarbeit in den Tanzkurs, und wenn ich danach heimkomm, möchte ich ein sturmfreies Refugium haben.
    Das Wort Refugium sagte er mit zelebriertem Ernst. Er war ein Fremdwortfetischist. Kein großer, denn er kannte nicht viele Fremdwörter. Die er aber kannte, wandte er häufig an und nicht immer richtig. Er war zwar schon bald 30 Jahre alt und fuhr wöchentlich zum Tanzkurs in die Kreisstadt, um eine Frau zum Heiraten kennenzulernen. Nur: Es klappte nicht. Er war mit 16 Jahren von einem fanatischen Lehrer noch in ein letztes Aufgebot rekrutiert worden, das aus Halbwüchsigen und alten Männern bestand und in der Nähe von Deggendorf eine Brücke gegen die anrückenden Amerikaner verteidigen sollte. Dabei hatte er kurz vor Ende des Krieges zwei Tage lang noch ein solches Grauen erlebt, dass die Natur zu seinem Schutz, um das Grauen in der Wahrnehmung zu mindern, eine Seltsamkeit in sein Hirn eingewoben hatte, die ihm auch in der folgenden Friedenszeit geblieben war. Jedes Mädchen, das er sonderbar anschaute, erkannte seine Sonderbarkeit sofort und schaute nun ihrerseits sonderbar zurück, so dass die Freuden der Liebe ihm verschlossen blieben, ohne dass ihm ein Grund dafür aber je bewusst geworden wäre.
    – Du hilfst mir jetzt, und dann tragen wir sie in ihrem Sessel hinüber in ihr Zimmer, sagte er zum Viktor. Und das taten sie dann auch.
    Und so wurde die Alte Mare zuletzt noch einmal in ihrem Lehnstuhl herumgetragen wie zuvor der Papst in seinem Thron. Nur war sie da schon tot. Der Papst noch nicht. Oft ähneln sich noch die Formen, nur die Zustände gleichen einander nicht mehr. Sollte man daraus eine Lehre ziehen? Eher nicht. Denn nur am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Auch wenn wir manchmal schon gestorben sind.
     
    Der Glanz, der die Mare nach ihrem Tod umgab, war überwältigend. Als sie zum Abendessen nicht erschien, schaute die Seewirtin in ihr Zimmer. Da sie die Mare aber immer noch in ihrem Lehnstuhl sitzen sah, dachte sie, sie schliefe noch, und stellte ihr einen Teller Suppe und ein kantiges Stück selber gemachten Bauernbrots auf den Nachttisch und ging dann wieder hinaus. Erst als sie morgens um sechs in den Stall kam und sofort sah, dass die Vorarbeit, die sonst von der Mare geleistet wurde, an diesem Morgen noch unerledigt geblieben war, erfasste sie eine Unruhe, und sie ging wieder zum Zimmer der Mare, klopfte mehrere Male an und rief ihren Namen. Dann öffnete sie die Tür und sah, dass das Essen vom Vorabend unberührt auf dem Nachtkästchen stand, der Sessel der Mare aber leer war. Noch machte sie sich keine Gedanken. Als aber nach und nach der Valentin und der Ziegltrum auftauchten und zuletzt auch der Viktor und keiner ihr Auskunft geben konnte über den Verbleib der Mare, weckte sie ihren Mann und berichtete ihm von den seltsamen Umständen. Daraufhin begann eine Suche im ganzen Haus, in den Stallungen und in der Scheune, die Nebengebäude wurden durchsucht und auch der gesamte

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