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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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deutschen Boden gegensätzlicher nicht sein konnte. Die öffentliche Meinung hatte sich bereits positioniert, und es herrschte breite Übereinstimmung darin, dass der Staat, der in der russischen Zone gegründet worden war, gar keiner oder höchstens ein Unrechtsstaat sei.
    Der große Verbrecher Stalin war zwar endlich tot, aber die Russen waren gefährlicher denn je, das konnte man in allen Zeitungen des rechtmäßigen Staates lesen. Auch wenn die letzten Kriegsgefangenen endlich heimgekehrt waren und ein paar bilaterale Gespräche schon stattgefunden hatten – ein blindes Vertrauen durfte auf keinen Fall hergestellt werden zu den Kommunisten, da war man sich weithin einig, und auf diesen Konsens konnte man in allen Belangen bauen. Wieso also musste gerade jetzt ein zukünftiger Papst mit solchen überflüssigen Bemerkungen Zwietracht auf dem Boden der Übereinstimmung sähen?
    Trotzdem geriet die Papstkrönung mit Hilfe des neuen Mediums zu einem überragenden Ereignis. Denn auch dieser neue Papst hielt keine Brandreden, er machte nur ein paar kleine Andeutungen, die im Volk ohne größeres Echo blieben. Niemand hatte in diesen Jahren etwas gegen soziale Gerechtigkeit einzuwenden. Die meisten bauten auf sie. Sie hatten im Krieg alles verloren und waren nun sehr darauf bedacht, dass beim Wiederaufbau gleich und gerecht zugeteilt wurde. Wofür sonst wäre eine Demokratie von Nutzen?
     

     
    Um neun Uhr am Vormittag des 4 . November zogen 15 Schülerinnen und Schüler und eine Lehrerin vorübergehend in das Zimmer des Ziegltrum ein. Sie lagerten auf dem Boden und auf dem Fensterbrett, vier lagen mit angewinkelten Ellenbogen, die Köpfe in die Hände gestützt, bäuchlings im Bett des Ziegltrum, das einen schafbockartigen Geruch verströmte, obwohl die Seewirtin es zuvor noch frisch bezogen hatte, damit ja kein Gerede aufkam, und zwei Buben waren sogar auf den Schrank geklettert und fühlten sich da oben, so sagten sie selbst, wie Putten im Petersdom. Die artig am Boden saßen, waren vor allem die Mädchen. In der Zimmertür stand mit verzweifeltem Gesicht der Ziegltrum, der immer auf pedantische Art Ordnung hielt in seinem Zimmer und nun sehen musste, dass seine Gutmütigkeit und sein Ordnungssinn vom Chaos überlistet worden waren. Der See wirt brachte für die Lehrerin einen mit Leder bezogenen Stuhl aus dem Gastzimmer und stellte vier weitere, einfache Stühle für sich und die Seewirtin und seine beiden Schwestern mitten hinein unter die auf dem Boden sitzenden Kinder. Schließlich forderte er den Ziegltrum, der immer wieder kopfschüttelnd auf den Hausgang hinaus und diesen auf und ab ging, um dann wieder fassungslos von draußen in sein Zimmer zu starren, auf, aus der Kammer der Mare den Ohrensessel herüberzutragen und so hinzustellen, dass sie gut sehen könne. Sie sei schließlich die Frömmste unter allen Anwesenden und deshalb stehe ihr der beste Platz zu. Er sagte das mit tiefem Ernst, ohne jeden Spott und ohne irgendjemand anderem hier drin das Maß der Frömmigkeit stutzen zu wollen . Dabei schaute er vor allem auf die Brieftaube. Aber so sei es nun mal und deshalb müsse man es auch respektieren.
    Denn auch die Alte Mare hatte, nach der Beichte und einer entsprechenden Rücksprache mit dem Herrn Pfarrer, ihre Scham vor dem Ziegltrum wieder weitgehend verloren und wagte sich am Tag der Papstkrönung zum ersten Mal in ihrem nun 73 -jährigen Leben vor einen Fernseher. Nur der Lux, hätte er noch gelebt, hätte draußen bleiben müssen, weil vor lauter Schulkindern tatsächlich kein Platz mehr für ihn da gewesen wäre, dachte sie und hatte Zeitlang nach dem Hund.
     
    Und dann wurde auf dem Fernsehschirm, auf den alle schon die ganze Zeit stumm und gespannt gestarrt hatten, auf einmal das Testbild ausgeblendet und eine noch völlig unbekannte, sogenannte Eurovisionsmusik setzte ein, und da lief einigen schon eine Gänsehaut über den Rücken. Der Eurovisionskranz verschwand mit dem letzten Klang der Musik, und ein Mensch wurde sichtbar, ein Mann, und sagte: Ich begrüße auch die Zuschauer in Österreich und in der Schweiz, und das entlockte dem Seewirt den ersten Ausdruck heftigen Bewunderns: Unglaublich!, sagte er; und: Da ist man ja ganz baff, sozusagen, sagte die Hertha; und unmittelbar nach ihr sagte der Ansager: Und nun schalten wir auf den Petersplatz nach Rom ...
    Und dann stand da, mittendrin im Zimmer des Ziegltrum, mit einem Mal der Petersdom, und vor dem Dom lag der Petersplatz, und auf dem

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