Mittelreich
wimmelte es nur so von Menschen. Wie Ameisen, sagte die Seewirtin; und: Geh, so was kann man doch nicht vergleichen, sagte mit bösem, abschätzigem Unterton die Brieftaube. Ich hab mir den immer viel größer vorgestellt, den Petersdom, sagte die Hertha, und ihre Enttäuschung war unüberhörbar. Das ist doch nur, weil der Fernseher so klein ist, sagte genervt der Seewirt und schämte sich vor der noch gar nicht so alten Lehrerin, die mit freundlichen und neugierigen Augen den Kommentaren der Wirtsleute folgte, für die Weltfremdheit seiner Schwestern. Der Viktor, der später gekommen war und seitlich stand, so dass er seinen Körper, abgewinkelt in der Hüfte, in Schräglage halten musste, um überhaupt was sehen zu können, sagte: No, da wird er können sich schon was einbilden drauf, der neue Papst, dass da sind gekommen so viel Leite wegen ihm. Und dann stand der Ziegltrum vor dem Fernseher, so absolut, dass außer seiner blauen Stallhose nichts mehr zu sehen war, und richtete ein gehäkeltes Deckchen wieder zurecht, das verrutscht war, als eines der Kinder das kleine Glaspferdchen, das auf dem Häkeldeckchen stand, heruntergenommen und von allen Seiten besehen hatte. Ganze zwei Minuten brauchte der Ziegltrum, bis das Häkeldeckchen wieder so dalag wie zuvor auch und er sich innerlich wieder entspannen konnte. Alle schauten ob der Sichtsperre irritiert oder leicht aufgebracht den Seewirt an, der auch hier im Raum die unantastbare Autorität war, und der machte hinter des Ziegltrums Rücken stumme Zeichen, mit denen er zu Geduld und Einsicht aufforderte, denn er wusste, dass ein falsches Wort in diesem Moment den Ziegltrum nur aufgebracht und das gesamte Unternehmen Papstkrönung im Fernsehen infrage gestellt hätte. Als das Deckchen wieder richtig lag und das Glaspferdchen wieder genau in der Mitte draufstand, schaute der Hans Ziegltrum noch einmal verzweifelt auf die vier Buben in seinem Bett und ging dann hinaus. Seine innere Ruhe hatte sich nach dieser Millimeterarbeit, vorerst wenigstens, einigermaßen wieder eingependelt.
Ganz still und ruhig aber saß die ganze Zeit über in ihrem Ohrensessel die Alte Mare und hatte von alledem nichts mitbekommen. Sie sah nur die bekannteste und heiligste aller Kirchen auf der ganzen Welt und davor den großen Petersplatz und auf ihm die vielen frommen Menschen – und mitten unter ihnen den Heiligen Vater, den heiligsten Mann der Welt, den Stellvertreter Gottes auf Erden. Dass sie das noch erleben durfte, war eine große Gnade für sie, so dass Tränen des Glücks und der Freude ihre Augen füllten und in kleinen Rinnsalen die ausgemergelten Backen herunterrannen. Während die Kinder um sie herum immer unruhiger und gelangweilter wurden und sich gegenseitig zwickten und in den Ohren bohrten und mit ihren Mittel- und Zeigefingern Hasenohren aufsetzten, während die Brieftaube die Papstkrone und den Heiligen Stuhl überschwänglich pries, wegen deren Würde und heiligen Pracht, während sich die Seewirtin mehr und mehr vom bäuerlichen Aussehen des Papstes beglückt zeigte, das so gutmütig und sympathisch auf sie wirkte, dass der heilige Mann, wie sie meinte, auch aus »unserer Gegend« hätte stammen können, so vertraut wie dieses Gesicht aussah, so »nah«, und während den Seewirt die Schweizergarde in ihrer Zackigkeit an die schmissigste Waffengattung im Dritten Reich, die SS , erinnerte und der Viktor noch mehrere Male wiederholte, dass sich der Papst darauf wirklich was einbilden dürfe, dass so viele Leute gekommen seien – während alldem betete die Mare in ihrem Ohrensessel unhörbar vor sich hin murmelnd den Rosenkranz und sah nach und nach den Petersplatz und den Dom sich in das Himmelreich verwandeln und sah mehr und mehr den Heiligen Vater die Gestalt des Himmlischen Vaters annehmen – und zwar genau so, wie sie sich ihn und den Himmel seit ihrer Kindheit immer wieder vorgestellt hatte. Leicht nach vorne gebeugt saß sie da, verschwindend klein und kleiner werdend in dem großen Stuhl, und ineinander geflochten die gekrümmten Finger in ihrem Schoß, nur ihre Lippen bewegten sich stumm und unmerklich und formten ein Vaterunser und ein Gegrüßetseistdumaria nach dem anderen. Und immer leichter wurde ihr und sie sich selbst, und alles um sie herum verschwand, es fiel ab von ihr, was schwer war und Sorge trug, sie spürte, wie sie langsam abhob und den Stuhl verließ, über dem sie noch eine kleine Zeit lang schwebte, bis nichts mehr sie hielt, kein
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