Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
was vor!
, ruft der Kasperl und taucht mit seiner Zipfelmütze auf.
Na, ist das nicht ein Traum? Endlich mal was los, es lebt der Mensch doch nicht vom Ernst allein!
– Kasperl, du musst mir helfen. Eine Testamentseröffnung, hier, bei dir, im Kasperlhaus!
– Na, so was hab ich gern! Endlich mal was G
’
scheites und nicht nur das alberne Kindertralala. »Seid ihr alle da?« Pfui Teufel, und so was soll ein Wiener Kasperl sein?
– Die Fortuna brauchma, die Fortuuuuunaaa!
»Was ist das? Schau!« Marie hält ihre Handfläche nach oben.
»Das kommt von der Maschine dort im Eck!«, schreit Gery gegen die Pratergeräusche an, die jetzt immer lauter werden.
»Das ist Goldstaub!«
Und dann auf einmal ein Knall und es ist ganz still im Kasperlhaus, sogar die Discolichter haben ihre Augen geschlossen und legen alles wieder in dichte Schwärze. Marie greift nach Gerys Hand.
»Ist es jetzt aus?«
Doch da hört man wieder leise den Donauwalzer. Der Vorgang öffnet sich. Vor einem Pult mit winzig kleinen Gläsern steht das Gespenst und berührt jedes der Gläser nacheinander mit seinen Händen.
– Jetzt ist es vorbei
, sagt es, als der Kasperl sich leise von hinten nähert.
– Ja, jetzt ist es vorbei. Ein Jahr ist vergangen.
– Dann muss ich also gehen?
– Ja, jetzt musst du gehen.
Der Kasperl nimmt das Gespenst bei der Hand.
Ein Jahr darf man auf die, die man geliebt hat, herunterschau
’
n, doch dann muss man sie ihr Leben weiterleben lassen. Weißt du, so ein Erdenmensch, der spürt, wenn man ihn beobachtet. Und das ist nicht gut für ihn.
– Hast du den Calafati getroffen?
– Der Calafati hat seinen Auftrag brav erfüllt. Mach dir keine Sorgen, Gspensterl.
Als der Vorhang fällt, bleibt es eine Weile still. Im Dunkeln geht einer auf Marie zu und legt ihr etwas in die Hand. Es ist eine hölzerne Puppe. Marie streicht vorsichtig mit dem Daumen über Kopf und Gewand. Der Calafati, denkt sie. Und auch Gery wird etwas auf die Knie gelegt, ein dicker weißer Briefumschlag. Dann gehen die Lichter an. Gery öffnet den Umschlag. Hinter der Bühne hört man etwas klappern. Maries Blick erhascht ein weiß angemaltes Gesicht mit einer aufgemalten schwarzen Träne, dann ist es auf einmal still.
Gery zieht die Bögen aus dem Kuvert.
»Das ist eine Schenkungsurkunde«, sagt er.
Hinter ihnen fällt eine Tür ins Schloss. Als Gery und Marie sich umdrehen, merken sie, dass Palicini verschwunden ist.
»Sind sie jetzt alle weg?«
»Marie, schau mal.« Gery hält ihr die Bögen vors Gesicht. »Das ist die Unterschrift vom Blasbichler. Er überschreibt uns die Wohnung in der Zwölfergasse.«
»Joes Wohnung. Das ist komplett verrückt.«
Marie sieht auf die Puppe in ihrem Schoß. Ihr Kopf ist abgegriffen und über dem linken Auge ist die Augenbraue abgeschlagen. Auch das linke Ende des Bartes ist abgebrochen. Sie fährt über das gelbe Kleid des Chinesers. »Da ist was drinnen!«
Sie schlüpft mit der Hand in die Figur und tastet, zieht den Gegenstand heraus.
»Joes Schlüssel«, sagt sie. »Und da ist noch etwas!« Sie grinst und zaubert zwei Eintrittskarten hervor. »Die sind fürs Planetarium.«
3 Sie liegen auf dem Rücken. Über ihnen der Sternenhimmel und unter ihnen der warme Teppich des Planetariums. Wieder sind sie ganz allein. Nicht einmal beim Eingang hat man sie nach ihren Karten gefragt. Kaum, dass sie sich niedergesetzt haben, ist auch schon das Licht ausgegangen, und Abermillionen winziger Sterne haben sich über ihren Köpfen ausgebreitet, fast ein wenig, als würde es schneien.
»Hast du gewusst, dass es so viele Sterne gibt?«, fragt Marie.
»Nein. Ich meine, gewusst schon, aber noch nie gesehen.«
»Kein Wunder, dass es vor der Elektrizität leichter war, an Gott zu glauben.«
»Mhm.«
Langsam dreht sich der Himmel über ihnen. Die Sterne sehen aus wie Sandkörner, hier und da bilden sie Wirbel, dann wieder stehen sie vereinzelt am schwarzen Himmelszelt.
»Was machen wir jetzt mit Joes Schlüssel?«, fragt Marie.
»Hm.«
»Sagst du immer nur Hm?«
Gery dreht sich auf die Seite und stützt seinen Kopf auf die linke Handfläche. In der Dunkelheit kann er nur den Umriss ihres Gesichtes erkennen.
»Was sollen wir schon mit ihm machen? Wir ziehen in seine Wohnung.«
»Du bist verrückt.«
»Wieso? Sie gehört doch jetzt uns.«
Marie antwortet nicht. Sieht stattdessen zu den Sternen hinauf.
»Ich erkenne kein einziges Sternenbild. Nicht einmal den Großen Bären. Dabei hat mir mein
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