Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Beerdigungen und sehen den anderen beim Trauern zu. G’sindl, elendiges.
Marie sieht den beiden nach. Ob das der Onkel ist, von dem Joe erzählt hat? Irgendetwas ist damals vorgefallen, wenn sie nur wüsste, was, aber Joe hat nie viel erzählt, nur dass der Willi ein perverses Schwein sei. Seine Mutter hat Joe sogar noch mehr gehasst als seinen Onkel. »Weißt du«, hat er zu ihr gesagt, »wenn sich etwas achtzehn Jahre lang in dich hineinbohrt, dann hast du keine Chance, dem jemals zu entrinnen, dann wirst du irgendwann einmal genauso ein Arschloch, ob du es willst oder nicht.«
Marie geht zum Grab und sieht auf die Rosen, deren Köpfe von der Erde niedergedrückt werden. Jetzt bin ich dich also endgültig los, denkt sie.
Aber das mit dem Denken und Glauben ist schon immer eine eigene Sache gewesen.
6 Wie leicht haben es doch diejenigen, die nicht mehr auf der Suche nach der großen Liebe sind, die die Suche entweder aufgegeben haben oder sich mit dem begnügen, was sie einst gefunden haben. Stierschneiders, zum Beispiel, haben die große Liebe längst hinter sich. Wohlig lehnt man sich zurück und genießt, dass man einander hat. Und auch sonst haben sie alles, der pensionierte Professor sein Arbeitszimmer mit dem ledernen Sessel, in das er sich noch immer so gerne zurückzieht, und seine Gattin ihr duftendes Reich zwischen Bratpfannen und Suppentöpfen.
Kochen ist Traudes Leidenschaft, ist das Kochen doch die reinste Form der Liebe. Ohne Essen kann der Mensch nicht leben, und was gibt es Schöneres, als die, die man liebt, am Leben zu erhalten. So gebiert sie immer wieder aufs Neue, nicht nur den Sohn, sondern auch den Gatten. Traude Stierschneider kann mit der neuartigen Knauserigkeit nichts anfangen. Alle sind so geizig heutzutage, niemand gönnt dem anderen mehr etwas. Eine Frau, die ihrem Mann ein Gemüseschnitzel hinstellt, wo soll das denn, bitteschön, hinführen? Ohne eine Unterlage wird der Mensch nicht satt, da sucht er sich sein Vergnügen woanders, geht ins Wirtshaus und kommt am Ende gar nicht mehr nach Haus. Da hat sie es geschickter angestellt, ihr Norbert ist immer gern nach Haus gekommen. Nach so viel Vergeistigung auf der Universität war er ganz ausgehungert, da hat sie das Essen schon parat gehabt. Nur neuerdings, seit er das Zepter an die Jugend weitergegeben hat, wird er ein wenig unberechenbar, da steht sie manchmal schon eine Viertelstunde mit dem fertigen Essen da, und er ist noch immer nicht daheim. Aber das wird sie ihm auch noch abgewöhnen, da muss wieder eine Ordnung einziehen, so ein ungeregelter Tagesablauf ist nämlich nicht gesund, schon gar nicht für einen Pensionisten. Jetzt, da Norberts Zeit nicht mehr in Vorlesungen und Seminare eingeteilt ist, muss Traude das Einteilen für ihn übernehmen, also kocht sie seit kurzem zu Mittag. Punkt zwölf steht das dampfende Essen auf dem Tisch, und wehe Norbert, wenn er die Knödel kalt werden lässt.
Heute ist ein ganz besonderer Freudentag, denn heute kommt der Bub zum Essen. Traude Stierschneider steht in der Küche, die Schürze umgebunden, und sticht in den Braten. Fein wird der wieder, der Duft hängt schon im Stiegenhaus und lockt auch Norbert Stierschneider an, der vom Bummeln kommt.
»Mmh, Gasthaus Schmatz!«, sagt dieser und schlüpft in die Lederpantoffeln. »Schweinsbraten, ich hab’s gleich im Erdgeschoss gerochen. Ist der Bub schon da?«
Noch bevor Traude den Mund aufbringt, läutet es auch schon an der Gegensprechanlage. Da ist er ja, der Bub, Zeit wird’s, der Braten ist gar und die Knödel liegen auch schon auf der Servierplatte. Schnell schlüpft sie aus der Schürze und stellt das dampfende Essen auf den Tisch. Mit glänzenden Augen beugt man sich über die Teller, und schon wird gekaut und geschmatzt, Fett spritzt aufs weiße Tischtuch, aber das macht nichts, die Mutter hat das neueste Waschmittel, das Geheimnis jeder perfekten Hausfrau, so ein Mittel würde sogar das Turiner Grabtuch wieder zum Strahlen bringen. Stolz nimmt sie einen zweiten Knödel. »Du auch, Jakob, iss, schaust eh so mager aus. Und mitnehmen kannst auch noch was, für morgen und übermorgen.«
Nach dem Essen stapelt die Mutter die Teller aufs Tablett, jetzt darf geredet werden, über die Uni und das Forschungsprojekt. Der Vater holt die Pfeife aus der Lade, stopft Tabak nach, und Jakob muss berichten, vom Quantenkanal im Untergrund, von den Fortschritten und Rückschlägen sowie von Professor Blasbichler, den er nicht leiden kann,
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