Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
gekommen ist, und ein Wenn hat ohnehin keinen Sinn, schon gar nicht im Nachhinein. Die Zeiten waren andere, und sie hat getan, was sie für das Beste gehalten hat. Und vielleicht war es auch das Beste, den Buben wegzugeben. Es hat ja eine Not geherrscht nach dem Krieg, das können sich die Jungen heute gar nicht mehr vorstellen. Damals ist es nicht so leicht gewesen, ein uneheliches Kind durchzubringen, damals ist man noch angeschaut worden. Nicht, dass ihr das etwas ausgemacht hätte. Aber was hätte aus dem Buben schon werden sollen, so ganz ohne Vaterliebe und Vatergeld? Wenn es auch viele Kinder ohne Vater gegeben hat damals, den Nachnamen haben sie wenigstens geerbt gehabt vom gefallenen Erzeuger. Den Namen und die österreichische Herkunft, zumindest laut Geburtsschein, denn dass die Nachkriegsbabys oft alles andere als großdeutsch gewesen sind, das hat jeder gewusst.
Hedi fährt mit der Hand über den Vorhangstoff, zerknüllt ihn und lässt ihn wieder los.
Es war die richtige Entscheidung. Bei den Steins hatte das Kind Chancen auf eine Zukunft. Aber meine Liebe, denkt Hedi, hätte ich dem kleinen Wassily geben können. Eine Liebe, von der für meine beiden Töchter nichts mehr übrig geblieben ist. Was man einmal im Keim erstickt hat, das ist nicht wieder zum Leben zu erwecken.
Und jetzt soll auf einmal das Glück Einzug halten. Dabei hat sie sich schon auf ein friedliches Restleben eingestellt, raschelnd hat sich das Konsalik-Papier in ihren Schoß gekuschelt und will so schnell nicht wieder hinunterhüpfen.
Eigentlich hat sie ihn ja wegschicken wollen, den Essen-auf-Rädern-Lieferanten, mitsamt seinen Plastikschüsseln und dem Roten Kreuz. Wie kommt ihre Tochter dazu, ihr so einen ins Haus zu schicken, nur weil sie einmal umgefallen, nur weil ihr ein einziges Mal schwindlig geworden ist? Ist ja auch kein Wunder, wo die Sommer neuerdings so heiß sind. Da muss man doch nicht gleich denken, die Mutter sei lebensunfähig!
Aber dann ist auf einmal dieser junge Mann vor ihr gestanden und hat sie aus seinen blassblauen Märzhimmelaugen angeschaut. Und sie hat gedacht: Jetzt ist es wirklich passiert, jetzt ist endlich wahr geworden, worauf ich immer gehofft hab. Aber dann ist ihr eingefallen, dass ihr kleiner Wassily heute auch schon einundsechzig sein müsste.
Hedi seufzt und schließt das Fenster.
Lilafarbener Flieder und weiße Parfümbäume. Kopfwehschwanger schwebte der Geruch an jenem Tag vor einundsechzig Jahren durch die mit Pappe beklebten Fensteröffnungen und drängte den Windelgeruch in die Ecke. Drei Stunden später war von den Babyausscheidungen nichts mehr zu riechen. Der Bub war fort, und Hedi hat ihn nie wiedergesehen.
9 Knapp vor dem Westbahnhof spannt sich die Schmelzbrücke über die Schienen der Westbahn und verbindet die beiden Teile von Fünfhaus. Mit ihren riesigen Stahlbögen ummantelt sie die Autokolonnen, tunnelt sie ein, treibt sie Richtung Felberstraße, wo sie sie mit einem gigantischen Furz aus Abgasen wieder ausscheidet. Nur der Gehsteig liegt außerhalb des Tunnels. Hier bleiben Väter mit ihren Söhnen stehen, schauen auf die Züge hinunter und erklären Nutzen und Handhabung von Weichenzunge und Stellwerk.
Genau an dieser Stelle steht Gery. Neben ihm ein rosafarbener Klappstuhl, darauf eine zusammengefaltete rote Jacke mit einem weißen Kreuz darauf. Er beugt sich über den Sessel, holt Tabak und Papers aus der Jackentasche, richtet sich wieder auf und beginnt, eine Zigarette zu drehen. Ein junges Paar geht vorüber, fasst sich an den Händen und lacht, andere eilen über die Brücke, ihre Gedanken sind schon vor ihnen am anderen Ende angekommen, gehen Einkaufs- und Kochlisten durch. Nur ein alter Mann mit dunklem, zerknittertem Gesicht geht auf Gery zu und legt ihm die fleckige Hand auf die Schulter. Dann stellt er sich ebenfalls ans Geländer und packt schweigend seine Pfeife aus. Eine Weile stehen die beiden paffend nebeneinander, dann spuckt der alte Mann aus und geht wieder weiter, zu jener Seite des fünfzehnten Bezirks, wo die Wohnungen kleiner und feuchter sind.
Gery wirft die Kippe auf die Schienen und sieht dem alten Muzaffer nach, wie er im Dunkel der Gasse verschwindet.
Muzaffers fünfjähriger Enkelsohn war Joes größter Fan. Beinahe täglich kam er auf die Brücke, und Opa Muzaffer kam mit ihm, lehnte sich gegen das Geländer, holte seine Pfeife aus der Westentasche und sah Joe dabei zu, wie er den kleinen Miko zum Lachen brachte. Und abends, wenn er
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