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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Schwiegervater, jetzt erzähl uns mal deine Abenteuer.«
    Der alte Mann grinste und deutete auf Bob Dollar. »Der ist mein Abenteuer. Er hat mich von Oklahoma hergefahren, obwohl ich den Brief mit der Adresse verloren habe. Er ist ein guter Mensch.«
    Bob errötete ganz fürchterlich, weil er sich an seine Ungeduld, seine Wut, seine Verärgerung über die Schweigsamkeit und das, was er für die Dummheit des alten Mannes gehalten hatte, erinnerte.
    Bob Mason strahlte. »Was für ein Glückstag für dich, Schwiegervater! Du hättest einem Räuber oder Mörder in die Hände fallen können. Du hättest entführt oder aus dem Auto geworfen werden können. Aber nein, hier bist du, unversehrt in deinem Zuhause.« Er stand auf, um den Hirschbraten zu begießen, hielt inne und sah den alten Mann wieder an. Mit plötzlich ernster und feierlicher Stimme fragte er: »Hast du deine Medizinsachen nicht dabei?«
    Der alte Mann lächelte verhalten, legte den Zeigefinger an die rechte Schläfe und deutete dann auf den Neiman-MarcusSack.
    »Vater«, sagte Shirley Brassleg-Mason, »ich habe zwar keine Ahnung, was du in Oklahoma wolltest, aber komm bitte und schau dir dein schönes Zimmer an. Es ist alles für dich vorbereitet. Du hast deinen eigenen Fernsehapparat und einen Tisch zum Schreiben und Zeichnen.« Sie sah Bob Dollar an. »Mein Vater ist für seine Zeichnungen und Bilder berühmt. Seine Arbeiten hängen in mehreren Museen. Da, über dem Kamin, das ist von ihm. «
    Bob sah ein merkwürdiges und verstörendes Bild, eine leere gelbe Farbfläche mit zwei dünnen Stangen in der rechten unteren Ecke. Er trat näher hin und merkte, daß die Stangen Pfeile waren, die im Boden steckten, fast bis zu den gefiederten Schäften, als wären sie aus großer Höhe abgeschossen worden und mit großer Kraft in den Boden gedrungen. Mehr war nicht zu sehen, und doch schien das Bild voller Bedeutung zu sein.
    Der Wapitihirschbraten war überwältigend, würzig und mit leisem Wildgeschmack. Im Bratensaft, den ihm Bob Mason auf den Teller schöpfte, war eine kleine dunkle Kugel, die Bob für ein Pfefferkorn hielt, aber Bob Mason bezeichnete sie als Wacholderbeere. Der alte Herr Brassleg verzichtete auf Kartoffeln und Salat und aß nur Fleisch. Bob stellte fest, daß seinSchwiegersohn ihm die besten Bissen abschnitt und darauf achtete, daß sein Teller immer gefüllt war. Es war unglaublich, wieviel Fleisch der alte Mann verdrücken konnte.
    »Wein gibt es leider nicht«, sagte Bob Mason. »Wir sind ein trockener Haushalt. Ich bin ehemaliger Alkoholiker.«
    Während des Essens, als der Feuerschein auf dem Tisch flackerte und sich in dem dunklen Bratensaft auf der Servierplatte spiegelte, fragte Shirley Bob nach seiner Arbeit, und Bob, dem behaglich zumute war unter so freundlichen Menschen, begann ihnen sein ganzes Leben zu erzählen, von der Horace Greely Junior University und Orlando und Mr. Cluke bis zu LaVon und ihren Taranteln und der hinterlistigen Evelyn Chine und seinen vergeblichen Versuchen, Jim Skin zu überreden, sein Land zu verkaufen, seiner Ratlosigkeit, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Der alte Mann blickte von seinem Fleischberg auf.
    »Sie, ein reicher weißer Junge, essen gut, fahren ein schönes Auto, tragen schicke Kleider, teure Schuhe, und Sie wissen nicht, was aus Ihrem Leben werden soll?«
    »Reich bin ich nicht direkt. In Wahrheit sind wir arm. Das Auto gehört mir nicht, und mein Onkel hat eine Art Ramschladen, von dort habe ich die Schuhe. Ich weiß einfach nicht, was für mich das beste wäre. Ich meine, soll ich wieder zur Schule gehen oder so? Ich glaube nicht, daß ich weiter Scout für Schweinemastbetriebe sein werde. Ich glaube, Mr. Cluke wird mich rauswerfen.«
    »Ich habe den Namen Jim Skin gehört«, sagte der alte Mann. »Ein Taugenichts. Er hat Cherokeeblut und erzählt Lügen darüber. Sein Vater hatte auch Cherokeeblut und war auch ein Lügner. Die Skins sind Lügner.«
    Bob konnte ihm nur zustimmen.
    »Aber«, sagte Brassleg, »man kann sogar einen Lügner zu einem ehrlichen Mann machen.«
    »Ich wünschte, ich wüßte, wie das geht«, sagte Bob.
    »Dieses Nichtwissen, das ist typisch für einen jungen Mann, er will wissen, wer und was und wo. Aber Sie haben Glück. Sie haben Chancen, Sie sind ein weißer junger Mann. Wie würde es Ihnen in der Reservation gefallen, mit vierzig bis achtzig Prozent Arbeitslosigkeit, wo es überhaupt keine Jobs gibt, kein Geld, um wegzukommen, keine Schulen, nichts,

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