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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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oberen.«
    »Das ist Pinky.« Sie holte den Behälter herunter, setzte ihn zwischen ihnen auf den Tisch und öffnete den Deckel. Voller Entsetzen sah Bob eine Tarantel mit babyrosa Füßen, die zu ihm hochstarrte. Er stand so schnell auf, daß sein Stuhl umfiel. Die Spinne zog sich verteidigungsbereit nach hinten zurück.
    »Sie tut Ihnen nichts«, sagte LaVon. »Sie ist ganz brav. Ich wundere mich, daß Sie sie überhaupt gesehen haben. Meistens hockt sie in ihrem Versteck.« Sie deutete auf mehrere Borken- stücke, die an der Rückwand des Behälters lehnten. »Sieht ein bißchen trocken aus«, sagte sie, faßte mit der Hand in den Behälter und befühlte die Sägespäne und den Boden. Die Spinne reagierte nicht. LaVon nahm ein Fläschchen, das neben dem Telefon stand, und besprühte das Käfiginnere mit einem feinen Nebel, bevor sie den Deckel wieder aufsetzte.
    »Wenn ich schon mal dabei bin«, sagte sie, stellte das Fläschchen beiseite und ergriff den zweiten Behälter.
    »Sie haben zwei davon«, sagte Bob ohne Begeisterung.
    »Die hier ist was anderes«, sagte sie, während sie vorsichtig eine Ecke des Deckels anhob. »Das ist Tonya. Sie ist eine Togo-Starburst, eine afrikanische Baumspinne. Baumspinnen sind beide, aber Pinky kommt aus Lateinamerika, aus dem Regenwald.« Bob trat näher, um die Spinne besser zu sehen. »Bleiben Sie weg, Bob, die hier kann springen, und sie ist sehr angriffslustig und beißt so schnell wie der Blitz. So ein Biß kann Ihnen ganz schön zusetzen.« Er sah, daß die graue Spinne ein wunderschönes Sternenmuster auf ihrem Schild hatte. Sie war kleiner als Pinky. Erleichtert sah er LaVon den Deckel schließen.
    »Tonya habe ich erst seit einem Jahr, aber Pinky seit fastfünf Jahren. Sie kann acht oder neun Jahre alt werden. Für eine Tarantel ist das nicht viel. Die Mexican Blond, die kann vierzig werden. Haustiere, an denen man lange Freude hat. «
    Als er das Haus verließ, hatte der Himmel die Farbe von kaltem Tee.
     
    Am Abend, als es so dunkel wurde, daß die Wörter nicht mehr zu entziffern waren, holte er seine Taschenlampe auf die Veranda der Arbeiterbaracke, denn er war an der Stelle des Berichts angekommen, wo der Leutnant Zeichnungen des Sohns von Old Bark anschaut (der zuvor unter »eigentümlichen Verrenkungen« getanzt hatte), autobiographische Zeichnungen, auf denen der Sohn mit seinem Speer kampflustig Pawnees angreift. Der Leutnant war großzügig und lobte die Ausführung und den »beträchtlichen Sinn« für Proportionen und bildliche Gestaltung. Bob hatte den Eindruck, daß der Leutnant dem Sohn von Old Bark eine Auszeichnung verliehen hätte, wenn er sein Zeichenlehrer gewesen wäre. Doch als der berühmte Trapper Thomas Fitzpatrick auf dem Schauplatz erschien und den Leutnant warnte, er solle Maultiere nie an Büsche anbinden, weil sie an den Zweigen rissen und bei jedem Rascheln wähnten, der Maultiere größte Feinde schlichen sich an, begann die Taschenlampe den Geist aufzugeben, und nach ein paar Minuten ließ Bob es sein und ging früh zu Bett. In diesem Augenblick, als er im tiefen Dämmerlicht saß und der Strahl der Taschenlampe schwächer wurde, veränderte sich der Verlauf von Bob Dollars Leben, ohne daß er es ahnte, denn er dachte nur an seine Verärgerung über das fehlende Licht und nahm sich fest vor, am nächsten Tag eine Campinglaterne oder eine Kerze zu besorgen.

8. Pionier Fronk
    I m Jahr 1878 saß in Manhattan, Kansas, Martin Merton Fronk, dreiundzwanzig Jahre alt, Sohn eines eingewanderten deutschen Uhrmachers, hustend und keuchend auf Doktor Jicks ledernem Untersuchungstisch.
    »Tja, junger Mann«, sagte Doc Jick, »mein Eindruck ist der, daß Sie unter einer Konzentration der starken Feuchtigkeit unserer örtlichen Atmosphäre leiden, die zwar für die Mehrzahl unserer Mitbürger durchaus bekömmlich, ja wohltuend ist, doch auf manche eine schädliche Wirkung ausübt. Und ich fürchte, daß Sie zu diesen letzteren gehören. Ihre Konstitution ist angegriffen, was Sie daran hindert, die Luft unseres Tieflands mit Gewinn zu atmen. Ich empfehle Ihnen, ein höher gelegenes, trockeneres Klima aufzusuchen, wo kristallklare Winde die Atmosphäre schnell und häufig reinigen. Ich würde Ihnen die texanischen Hochebenen empfehlen; andere Leidende vor Ihnen haben sie aufgesucht und fanden binnen eines Jahres merkliche Linderung. Darunter nicht wenige Schwindsüchtige.«
    »Habe ich Schwindsucht?«
    »Das glaube ich nicht. Sie sind empfindlich

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