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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Alters, wenngleich ein schönes schwarzhaariges Mädchen darunter war, das keine zwanzig zu sein schien. Es war hochschwanger, so unförmig und angeschwollen, daß Bob eine Notentbindung befürchtete. LaVon stellte das Mädchen als Dawn Crouch vor, die Enkeltochter des Windradbauers Ace Crouch, und sagte, sie habe ihren Großeltern Ace und Vollie einen schönen Quilt mit dem Muster von Rotorblättern gemacht.
    »Ja, und mit einem Saum aus Blitzen«, sagte das Mädchen. Bob bemerkte, daß sie keinen Ehering trug. Die Namen der älteren Frauen vergaß er, sobald sie ihm vorgestellt worden waren, mit Ausnahme von Freda Beautyrooms, einer untersetzten Frau mit auffälligen O-Beinen, die er für eine Siebzigjährige hielt, bis die alte Dame krähte, sie sei »dreiundneunzig Jahrejung«. Sie hielt sich an einem schwarzen Lederköfferchen von der Größe eines Kinderschuhkartons fest.
    »Aha, Archbell glänzt mal wieder durch Abwesenheit«, sagte sie spöttisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
    »Das stimmt«, sagte LaVon. »In den letzten Monaten ging es ihr nicht so besonders. Sie hat Gedächtnislücken, Gleichgewichtsstörungen, und mit ihrer Laune steht es auch nicht zum besten.«
    »Sie ist alt und gaga. Die hellste Birne in der Fassung war sie sowieso nie. Erinnert ihr euch noch, als sie von Sohn und Schwiegertochter die hübsche rosa Heizdecke geschenkt bekommen hat und stundenlang dasaß, bis sie alle Drähte rausgezogen hatte? Dumm wie Bohnenstroh.« Sie öffnete ihr Köfferchen, das Hunderte von Nadeln der Größe nach aufgereiht enthielt, Fingerhüte und Scheren wie Kranichschnäbel.
    »Von den Verbrennungen hat sie sich nie erholt. Als der Gasofen explodiert ist. Und ihr die Nylonstrümpfe an den armen Beinen festgeschmort sind. Nie im Leben würde ich solche Strumpfhosen anziehen.« Sie reichte die Nadel ihrer Wahl LaVon zum Einfädeln und sagte, ihre Augen seien zu alt, um das Öhr zu finden.
    Die Frauen legten die Stücke des Kain-und-Abel-Quilts auf dem Tisch aus. Der Boden war eine große gelbbraune Weide, gesprenkelt mit Mesquitesträuchern und aloeblättrigen Palmlilien. Im Hintergrund sah man ein Gehege und eine Gestalt, die sich über ein Feuer mit Brandeisen beugte. Im Vordergrund stand ein stämmiger Farmer mit wutverzerrter Miene über einem knienden, zurückweichenden Schafhirten, im Begriff, ihm das Gesicht (das an James Dean erinnerte) mit einem großen Felsbrocken zu zerschmettern. Drei blauäugige Schafe sahen zu. Er hatte schon mehrmals zugeschlagen, satte Blutflecken besudelten den Boden. Die blaue Latzhose des Mörders war mit geronnenem Blut aus rotem Satin bespritzt.
    LaVon erklärte Bob: »Wir konnten uns anfänglich partoutnicht einigen, ob wir Kain und Abel lieber in diese gestreiften Gewänder und Sandalen stecken sollten, wie man sie immer in den Bibelfilmen sieht, aber am Ende haben wir uns dafür entschieden, sie so anzuziehen wie die Leute hier. Damit es echter wirkt.«
    »Damit die Botschaft ankommt«, sagte Rella Nooncaster, eine zaundürre Frau mit fahler Gesichtshaut, deren weißes Haar einen Garçonneschnitt hatte. Sie sprach in einem schwerverständlichen Quengelton, ohne die Oberlippe zu bewegen. Die Unterlippe verformte und bewegte sich ganz verblüffend.
    Eine andere Frau mittleren Alters mit gekraustem braunem Haar wie Polsterfüllung aus einem Autositz kam herein.
    »Das ist Mrs. Lenghty Boles. Mrs. Boles ist unsere Künstlerin, Bob«, sagte LaVon. »Sie zeichnet die Entwürfe für die Quilts. Sie war auf der Kunstakademie. Und sie macht wundervolle Weißstickereiquilts und Kunstwerke. Das Jesusbild in der Küche aus Getreidekörnern und Samen, das ist von ihr.«
    »Ja«, sagte Mrs. Boles zu Bob. »Getreidekunst. So heißt das. Meistens religiöse Sujets oder Familienszenen oder Lokales – ich habe die Bank, die Schule mit dem Schulbus in Getreide ausgeführt, aber statt Farbe benutze ich Samen, alle möglichen Sorten, die Fülle aus Gottes Hand. Ich habe über dreihundert Sorten Samen, mit denen ich arbeite. Teilweise Wildsorten. Pflaumensteine als Gürtelschnallen mag ich besonders.« Sie entrollte ein Stück Quilt, das einen halbfertigen blühenden Kaktus zeigte, fädelte flink eine Nadel ein, die sie aus ihrem Kragen gezogen hatte, und nachdem sie umständlich die Stelle mit der richtigen Garnfarbe gesucht hatte, begann sie an den fleischigen Blättern weiterzunähen.
    Auf dem Hauptabschnitt trug Abel, der kniende Schafhirte, Jeans und ein kariertes Hemd mit

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