Mitten in der Nacht
verschwinden.
»Mann. Wie schaffen Sie denn überhaupt irgendetwas? Sie könnten doch den ganzen Tag hier sitzen und schauen!«
»Es ist ein guter Ort.« Sie holte einen Krug mit dunklem Tee aus dem Kühlschrank, dessen Maße kaum größer waren als sie. »Meine Familie ist hier schon seit mehr als hundertfünfzig Jahren ansässig. Mein Großvater hatte eine gute Brennerei da draußen hinter den Bäumen. Die Leute vom Fiskus haben sie nie entdeckt.«
Sie stellte das Glas und den Teller vor ihn auf den Tisch. »Manger. Essen Sie. Was macht Ihr Großvater?«
»Er war Anwalt. Es waren sogar beide Anwälte.«
»Und sind jetzt tot, oder?«
»Im Ruhestand.«
»Sie vielleicht auch?« Sie zog eine bauchige, hellblaue Flasche hervor, als er den ersten Bissen Maisbrot kaute.
»In gewisser Weise schon, jedenfalls was die Gerichtsbarkeit angeht. Das schmeckt wunderbar, Miss Odette.«
»Fürs Backen habe ich ein Händchen. Ich liebe Gänseblümchen«, fügte sie hinzu, als sie diese in die mit Wasser gefüllte Flasche stellte. »Sie haben so fröhliche Gesichter. Wollen Sie Rufus den Knochen geben, den Sie ihm mitgebracht haben, oder wollen Sie, dass er darum bettelt?«
Da Rufus momentan auf seinem Fuß saß und eine seiner gewaltigen Pfoten auf seinem Oberschenkel ausruhte, entschied Declan, dass er genug gebettelt hatte. Er holte den Knochen aus der Verpackung. Der Hund nahm ihn sich überraschend vorsichtig ins Maul, wedelte mit seinem Schwanz wie mit einer Peitsche zwei Mal von der einen Seite zur anderen, ließ sich dann auf den Boden fallen und fing zu mampfen an.
Odette stellte die Blumen mitten auf den Tisch und setzte sich schließlich auf den Stuhl neben Declan. »Was werden Sie mit diesem großen alten Bau anstellen, Declan Fitzgerald?«
»Alles Mögliche. Ich werde ihn, soweit ich kann, wieder so herrichten, wie er einmal war.«
»Und danach?«
»Ich weiß nicht. Hier leben.«
Sie brach ein Stück Maisbrot ab. Sie hatte bereits den Entschluss gefasst, ihn aufgrund seines Aussehens zu mögen – das unordentliche Haar, die steingrauen Augen in einem schmalen Gesicht. Und seinen Tonfall – Yankee, aber nicht hochnäsig. Und trotz seiner geschliffenen Manieren war er natürlich und freundlich.
Jetzt wollte sie erfahren, aus welchem Holz er geschnitzt war.
»Weshalb?«
»Das weiß ich eigentlich gar nicht so genau, außer dass ich mir nichts anderes mehr vorstellen konnte, seit ich das Gebäude zum ersten Mal gesehen habe.«
»Und was hält das Herrenhaus von Ihnen?«
»Ich glaube, es hat sich noch nicht entschieden. Sind Sie je drinnen gewesen?«
»Hm.« Sie nickte. »Ist schon eine Weile her. Viel Haus für einen allein lebenden jungen Mann. Haben Sie denn ein Mädchen daheim in Boston?«
»Nein, Ma'am.«
»Ein gut aussehender Junge wie Sie, schon über dreißig. Sie sind doch nicht schwul, oder?«
»Nein, Ma'am.« Er grinste, als er sein Glas Tee hob. »Ich mag Mädchen. Hab bis jetzt nur noch nicht die Passende gefunden.«
»Lassen Sie mal Ihre Hände sehen.« Sie nahm eine in ihre Hand und drehte sie um. »Da klebt noch immer die Stadt dran, aber damit werden Sie ganz schnell fertig.« Ihr Daumen strich über verheilenden Blasen, Schrammen und den Rand sich bildender Schwielen. »Ich habe einen Balsam für Sie, den ich Ihnen mitgebe, wenn Sie gehen, damit Ihnen die Blasen keinen Ärger mehr machen. Sie haben starke Hände, Declan. Stark genug, um Ihr Schicksal zu wenden. Einen neuen Weg einzuschlagen. Sie haben sie nicht geliebt.«
»Wie bitte?«
»Diese Frau.« Odette strich beschwichtigend über seine Handinnenfläche. »Die, von der Sie Abstand genommen haben. Sie war nichts für Sie.«
Stirnrunzelnd kam er näher und starrte auf seine Hand. »Sie sehen Jessica darin?« Faszinierend. »Bleibt sie mit James zusammen?«
»Was kümmert Sie das? Sie hat Sie auch nicht geliebt.«
»Na gut«, sagte er und lachte verhalten.
»Die Liebe steht Ihnen ins Haus, eine, die Sie glatt umschmeißt. Die wird Ihnen gut tun.«
Obwohl sie weiterhin mit ihrem Daumen seine Handinnenfläche streichelte, richtete sie ihren Blick auf sein Gesicht. Ihre Augen schienen sich zu vertiefen. Er glaubte Welten darin zu erkennen.
»Sie haben starke Bande zu Manet Hall. Starke, alte Bande. Leben und Tod. Blut und Tränen. Freude, wenn Sie stark genug sind, klug genug sind. Sie sind ein gescheiter Mann, Declan. Seien Sie klug genug, nach vorne und zurückzuschauen, um sich selbst zu finden. Sie sind nicht allein in
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