Mitten in der Nacht
kann.«
Da stand keine Weide, nur noch ein morscher Stumpf. Die Angst kratzte ihr in der Kehle, aber sie schluckte sie hinunter. Instinktiv stellte sie sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen warm auf die seinen.
Langsam und verträumt reagierte er darauf, glitt auf sie zu. An sie. In sie. Auf diese Weise bekam sie mit, wie er wieder ins Normalbewusstsein eintauchte, denn sein Körper wurde steif. Er begann zu taumeln, aber sie hielt ihn fest.
»Sei ganz ruhig, cher. Halt dich an mir fest, bis du deine Beine wieder spürst.«
»Tut mir Leid. Ich muss mich hinsetzen.« Er ließ sich aufs Gras plumpsen und legte seine Stirn auf die Knie. »Mann o Mann.«
»Jetzt ist alles gut. Es ist alles in Ordnung.« Sie kniete sich neben ihn, strich ihm übers Haar und redete besänftigend in Cajun – ihrer Trostsprache – auf ihn ein. »Sieh zu, dass du wieder zu Atem kommst.«
»Was zum Teufel ist nur los mit mir? Ich war auf der Galerie. Ich habe an der Galerie gearbeitet.«
»Ist das das Letzte, woran du dich erinnerst?«
Nun hob er den Kopf und blickte über den Teich. »Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin.«
»Du bist die Treppe hinabgestiegen, die rechts vom Haus. Ich dachte schon, du würdest gleich durchbrechen.« Beim Gedanken daran, wie instabil sie war, kam ihr Herz jetzt noch aus dem Takt. »Die Treppen sind nicht sicher, Declan. Du solltest sie absperren.«
»Ja.« Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Am besten sperre ich mich gleich in einen gepolsterten Raum.«
»Du bist nicht verrückt.«
»Ich schlafwandle – jetzt schon am helllichten Tag. Ich halluziniere. Ich höre Stimmen. Das hört sich für mich alles nicht sehr gesund an.«
»Das sagt doch nur der Yankee in dir. Hier unten fällt das noch nicht einmal unter Exzentrik. Meine Großtante Sissy führt ganze Gespräche mit ihrem Ehemann Joe, und der ist kommenden September schon zwölf Jahre tot. Keiner hält sie für verrückt.«
»Worüber reden sie?«
»Ach, Familienangelegenheiten, aktuelle Ereignisse, das Wetter. Politik. Großonkel Joe hat gerne über die Regierung hergezogen. Fühlst du dich ein wenig besser, cher?«
»Ich weiß es nicht. Was habe ich getan? Was hast du mich tun sehen?«
»Du kamst einfach die Treppe herunter und gingst über das Gras auf den Teich zu. Es war nicht dein üblicher Gang, und daran habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast so einen flüssigen, schlaksigen Gang und gingst überhaupt nicht so. Dann bist du am Teich stehen geblieben.«
Sie sagte ihm nicht, dass sie sich einen angstvollen Moment lang sicher gewesen war, er wolle direkt ins Wasser gehen.
»Ich habe dich immer wieder gerufen. Endlich hast du dich dann umgedreht und mich angelächelt.« Ihre Bauchmuskeln verspannten sich bei der Erinnerung daran. »Aber du hast mich nicht gemeint. Ich glaube nicht, dass du mich gesehen hast. Und dann sagtest du, du wolltest unter der Weide sitzen, wo keiner uns sehen könne.«
»Es gibt hier gar keine Weide.«
»Stimmt.« Sie deutete auf einen Baumstumpf. »Aber einmal stand da eine. Offenbar hast du Träume, in denen du Dinge siehst, die früher passiert sind. Das ist ein Geschenk, Declan.«
»Und wo kann ich es zurückgeben?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, denn wenn ich aufwache, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Aber langsam glaube ich, ich sollte mich nachts am Bettpfosten festbinden.«
»Diese Nacht kann ich mich um dich kümmern.«
»Versuchst du etwa mich mit Fesselungsfantasien aufzuheitern?«
»Gelingt es mir?«
»Ziemlich gut.« Er atmete aus und sah dann stirnrunzelnd auf den Fleck auf ihrer Stirn. »Du hast da Ruß oder so«, begann er, aber sie bog den Kopf zurück, ehe er daran reiben konnte.
»Das ist geweihte Asche.«
»Ach, richtig.« Sein Gehirn war zweifellos in Ferien. »Aschermittwoch. Nicht genug, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, weiß ich auch nicht mehr, in welcher Zeit ich mich befinde.«
Sie ertrug es nicht, ihn erneut in Trübsal versinken zu sehen, und bemühte sich um einen forschen Ton, fast ein wenig hochmütig. »Heißt das etwa, du warst heute an diesem heiligen Tag der Buße nicht in der Kirche?«
Er zuckte zusammen. »Du redest wie meine Mutter. Ich habe es vergessen. Na ja, so ähnlich.«
Sie zog eine Braue hoch. »Mir scheint, du bedarfst dringend aller Segnungen, die du kriegen kannst.« Und indem sie es aussprach, rieb sie mit dem Finger über das Aschenmal auf
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