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Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Titel: Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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sich auf die Unterlippe. Er hatte das Bild doch nur mitgenommen, weil sie ihm so gequält vorkam und er gedacht hatte, vielleicht könnte er mal über angenehme Dinge mit ihr reden. Zum Beispiel über ihre Kinder.
    Auf der Straße betrachtete er das Foto noch einmal.
    Er schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Martina Koller war eine merkwürdige Frau.

34
    Lina kommt im Januar 2002 zur Welt. Die Geburt ist problemlos, zwei Tage bleibt sie im Krankenhaus. Sie hat Sven in der Schule krankgemeldet, damit er sich um Daniel kümmern kann. Das Notfallmedikament reicht schon lange nicht mehr. Zu Anfang hatte sie noch ein Rezept bekommen, ohne Daniel vorzustellen, aber dann hatte der Arzt gesagt, sie müsse Daniel zum Blutbild vorbeibringen, sonst könne er es nicht weiter verschreiben. Aber Daniel war schwach auf den Beinen gewesen. Seither gab sie ihm Vivinox sleep, das sie ohne Rezept in den Apotheken kaufen konnte.
    Lina ist ein ruhiges Kind, trotzdem verlangt sie die Aufmerksamkeit, die alle Säuglinge einfordern.
    Und es ist, als wäre mit Lina noch etwas anderes geboren worden.
    Eine Traurigkeit, die sie zu lähmen scheint. Manchmal, wenn Sven und Julia das Haus verlassen haben, sitzt sie am Küchentisch und starrt einfach nur vor sich hin. Linas Flasche, Daniel versorgen, aufräumen, kochen, einkaufen. All das geht ihr durch den Kopf. Sie muss aufstehen und die Dinge erledigen. Sie weiß das. Linas anhaltendes Schreien reißt sie dann aus ihrer Lethargie, und sie schafft es mit größter Anstrengung, das Kind zu stillen. Dann fällt sie zurück auf den Küchenstuhl, wartet auf ein neues Signal, ein neues Zeichen von Dringlichkeit, das in der Lage ist, ihren Körper in Bewegung zu setzen.
    Andreas ist selten zu Hause. Er zahlt die Miete, manchmal lässt er ihr Hauhaltsgeld da. „Wage es ja nicht zum Sozialamt zu gehen“, hat er gedroht. Das wäre nicht nötig gewesen, das hätte sie auch ohne die Drohung nicht getan. Zweimal in der Woche schickt sie Sven zum Aldegundis Kirchplatz ins Gemeindehaus, zur Lebensmittelverteilung an Bedürftige.
    Daniel erbricht sich jetzt häufig. Manchmal schafft sie es nur, ihn sauber zu machen und ihm mit einem Löffel Yoghurt eine Tablette zu geben. Er ist lieb. Ganz still und ohne dieses Wegdrehen, wie er es früher getan hat, lässt er sich wickeln. Die Mullbinden an den Beinen hat sie ihm abgenommen. Er steigt nicht mehr allein aus dem Bett, scheint zu spüren, dass sie nicht die Kraft hat, sich ständig um ihn zu kümmern.
    Manchmal kann sie sich zwingen und schafft es, ein wenig aufzuräumen, das Geschirr zu spülen. Dann ist es, als würden die Möbel und Wände wie Kulissen an ihr vorbeiziehen. Ganz langsam scheint die Zeit auf den Boden zu sinken, so langsam, dass sie denkt, jetzt müsse die Uhr rückwärtslaufen. Diese Zähigkeit liegt in den Minuten und Stunden und passt nicht in die große Zeit, in die Wochen und Monate. Die eilen unbemerkt an ihr vorbei und sammeln ihre Versäumnisse wie Regentropfen in einem dunklen Weiher. Dann zittert sie, weint und schaukelt auf ihrem Stuhl hin und her, wie Daniel es getan hatte, wenn er auf dem Fußboden saß.
    Und dann?
    Wie war das noch gewesen?
    Dann hatte es diese Lücke gegeben, diesen Nebel.
    Daniel hatte geschlafen. Immerzu geschlafen.
    Der kleine Engel.
    So rücksichtvoll.
    Aber das hatte sie nicht gewollt.
    Sie hatte gedacht, er muss doch laufen und spielen.
    Dieser Nebel in all den Bildern! Wabernd liegt er zwischen ihr und Daniel, zwischen Häusern und Bäumen. Hüllt alles ein, vereinzelt die Dinge und Menschen. Alles für sich. Nichts gehört zusammen.
    Der Zug.
    Ja!
    Sie war mit Daniel auf dem Schoß in diesem Schnellzug gefahren. Die Geschwindigkeit hatte sie tief in den Sitz gedrückt.
    Gebete. Bruchstücke aus längst vergessenen Gebeten drehten sich in einer Endlosschleife.
    … dein Reich komme, wie im Himmel…
    … soll niemand drin wohnen, nur du allein …
    Ganz unbeweglich hatte sie dagesessen. Diese kleine, zäh tropfende Zeit in ihrer Brust. Diese Eile, mit der sie durch die Nacht raste.
    Warten! Warten! Warten!
    Und dann der Augenblick, in dem der Zug ihren Waggon abhängte. Ein kurzer Ruck. Ein Angleichen der kleinen und großen Zeit. Dieses Auslaufen! Dieses Verlangsamen aus voller Fahrt heraus. Kein Bremsen, sondern ein Druck auf dem Brustkorb, der ihr den Atem nimmt, sie betäubt zurücklässt.
    Und dann?
    Wie abgeschnittene Fäden liegen diese Restgedanken in ihrem Kopf. Sie

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