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Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Titel: Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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Tische.
    Vier Tage! Fünfundvierzig Jahre mühen und nach vorne sehen. Arbeiten. Sich etwas aufbauen. Sparen für das Alter. Kein Urlaub. Sechs Tage pro Woche bis nach Mitternacht in der Küche und hinter der Theke. Jahr um Jahr.
    Wie konnten vier Tage sich über all die Zeit legen? Wie konnten all diese Jahre unter vier Tage passen?
    Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag, der Schwindel ließ nach. Sie stand auf, ging in die Küche und auf die Hintertür zu, die immer noch weit geöffnet war. Sie entlud den Kombi, verstaute die Lebensmittel in Kühlhaus und Trockenlager. Betäubt versuchte sie, mit Routinehandgriffen in diesen Tag zurückzufinden. Sie trug die Kiste Pata Negra, die Vittore auf der Arbeitsfläche hatte stehen lassen, vor in den Gastraum.
    Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust. Er jagte ihr in den linken Arm, und sie sah, wie ihr der Karton entglitt. Ganz langsam, so schien es ihr, fiel er zu Boden. Wie konnte ein so schwerer Karton so langsam fallen? Der Wein ergoss sich auf die Terracottafliesen, sammelte sich in den Fugen. Ein herbfruchtiger Geruch stieg auf.
    Tränen traten ihr in die Augen, sie spürte ihren stoßweisen Atem und das Zucken der Schultern. Hörte ihr hysterisches Lachen.
    Noch vor vier Tagen hätte sie sich über die zerschlagenen Weinflaschen den ganzen Abend aufgeregt. Der Wein wäre die Katastrophe des Tages gewesen. Abends wäre sie nur schlecht eingeschlafen.
    Sie spürte, wie das Zucken ihrer Schultern kleiner wurde und das Lachen in ein Schluchzen überging.

39
    Er saß in seinem Zimmer. Sein Zimmer!
    In den ersten Wochen, in denen Daniel im Heim war, hatten Julia und er noch gefragt. Wann er denn wieder nach Hause käme? Wann sie ihn denn besuchen könnten?
    Immer hatte Mama „bald“ gesagt.
    Sie hatten Daniels Zimmer nicht betreten. Er nicht, Julia nicht und Mama auch nicht. Dann, kurz vor Weihnachten räumte Mama die Schränke leer, stellte Daniels Bett in den Keller und strich die Wände neu.
    „Das wird jetzt dein Zimmer“, sagte sie. „Freust du dich?“
    Er hatte genickt. Ihr zuliebe. Er hatte sich nicht gefreut.
    Am Abend flüsterte er Julia im Bett zu, dass es besser wäre, Mama nicht mehr zu fragen. „Danielgeht es jetzt gut, und Papa will ihn doch nicht hier haben. Er haut ihn dann wieder. Und wenn wir Daniel besuchen und ohne ihn wieder weggehen, ist er traurig.“ Julia fragte, ob Daniel im Heim bleiben müsse, bis Papa stirbt.
    Darauf antwortete er nicht. „Schlaf jetzt“, sagte er.
    In der ersten Nacht in seinem neuen Zimmer weinte er. Er war keine Heulsuse, aber an dem Abend, zum ersten Mal ganz alleine in diesem Zimmer, war es so endgültig gewesen. Was genau für immer zu Ende war, wusste er nicht. Nur, dass es so war, spürte er genau. Und dass es seine Schuld war. Aber das wusste er schon lange.
    Mama hatte Papa wieder einziehen lassen, weil er, Sven, es gewollt hatte. Er hatte gebettelt. Und die ersten Wochen waren ja auch schön gewesen, aber dann …
    Als die Polizisten vorgestern Nacht geschellt hatten, war er aufgestanden und hatte seine Zimmertür einen Spalt geöffnet.
    Er hatte zugehört. Als sie weg waren, setzte er sich zu Mama aufs Sofa. Sie nahm ihn nicht in den Arm, wie sie es sonst tat. Sie starrte vor sich hin. Wie lange sie so dasaßen, wusste er nicht. Aber ihm war ganz schwindlig geworden von Mamas Schweigen. Er war wortlos zu Bett gegangen. Eingerollt unter der Bettdecke hatte dieses Zittern angefangen. Er fror nicht und trotzdem zitterte er am ganzen Körper. Und dann weinte er. Er konnte gar nicht mehr aufhören.
    Mama stand plötzlich in der Zimmertür. Sie stand einfach nur da. Sie tröstete ihn nicht. Er spürte, dass sich etwas veränderte, dass Mama sich veränderte. Und er spürte, dass er nicht um Papa weinte, sondern weil er Angst hatte. Er weinte, weil Mama so weit weg war. Er weinte, weil er sich plötzlich so allein fühlte.
    Er zog den Schreibtischstuhl vor den Schrank. Obenauf lag der alte Koffer aus hellbraunem Kunstleder. Er drückte auf die beiden angerosteten Messingknöpfe und die Verschlüsse sprangen auf. Er hob den Deckel an und spähte hinein. Dann ließ er ihn zufallen, drückte die Verschlüsse zu und sprang vom Stuhl.
    Das mit dem Weinen war vorbei. Das war gestern gewesen. Weil er so durcheinander war.
    Er nahm den Gameboy aus der Schultasche. Den hatte Tobias ihm geliehen. Tobias war ein richtiger Freund. Sie hatten zusammen die erste Stunde geschwänzt und er hatte ihm alles

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