Mitternachtserwachen
Geräusch gekommen war. Da war es wieder: ein leises Stöhnen, ein Flehen um Hilfe.
Aileen sprintete los, rutschte aus, fiel in eine warme Lache, und die Fackeln erloschen. Benommen setzte sie sich auf und ließ beinahe den Dolch fallen, da er hell erstrahlte. Doch er war nicht heiß, sondern erleuchtete die nähere Umgebung. Der Vampir aus ihrer Vision war an einer Stalagmitensäule gefesselt. Blut tropfte in Rinnsalen aus seinem Körper, aus seinen Armen, an denen die Hände fehlten.
„Hilf mir, Marbhadair. Bitte. Es ist nicht zu spät.“
Hatte er wirklich gesprochen? Oder entsprang es nur ihrer Einbildung? Mit den Verletzungen konnte er unmöglich noch leben. Er schrie, und rote Knochen wuchsen aus den Armstümpfen, da sein Skelett sich erneuerte. Er war eine nie versiegende Quelle für seine Folterer.
Eine Gestalt flimmerte in den tiefen Schatten der Grotte. Sie kniff die Lider zusammen, weil sie so vertraut erschien.
„Du musst die Höhle finden, Ulaidh Marbhadair, um mir zu helfen, meinen Frieden zu erlangen“, wisperte die Stimme, die sie viele Jahre ihres Lebens begleitet hatte.
Ralph!
Das konnte nicht sein! Ein Schrei brach aus ihrer Kehle, und sie schaffte nicht, ihn zu stoppen. Die Höhlenwände warfen ihr Leid als Echo zurück.
Togo rannte bellend auf Lior zu, drehte sich auf dem Absatz um, und er konnte kaum Schritt halten mit dem Madadh Allaidh. Exodus lief neben ihm, und sein Schwert leuchtete hell genug, um die Umgebung zu erkennen. Dieses Haus war seit Ewigkeiten unbewohnt. Überall lag Staub, die Einrichtungsgegenstände waren schon vor langer Zeit weggeschafft worden. Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden. Aileens Schrei erstarb, und die darauffolgende Stille war mehr, als er ertragen konnte.
Bitte lass sie nicht tot sein.
Er erlaubte sich nicht, auf den Gedanken zu reagieren, sammelte seine Lugussinne zusammen, bis er sich unter Kontrolle hatte. Deutlich waren Aileens und Togos Fußspuren auf dem staubigen Boden zu erkennen. Togo verschwand gerade in einer Tür, die offensichtlich in den Keller führte. Lior sprang die fünf Stufen hinab. Aileen saß auf den Knien, starrte ins Nichts, während ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. In letzter Sekunde stoppte Lior, bevor er den schimmernden Ring durchbrach, der sie umgab.
Ein Hexenkreis!
Daingit! Es war gefährlich, den Bann aufzulösen, wenn man nicht wusste, mit welcher Seite der Hexenkraft man es zu tun hatte. Er würde es trotzdem riskieren. Doch ehe er einen Fuß nach vorn setzen konnte, packte Exodus ihn mit einem Arm, der wie eine Schraubzwinge um seinen Brustkorb lag, und riss ihn zurück.
„Nicht, Junge!“
Togo umkreiste Aileen, als suche er einen Weg hinein. Abrupt blieb der Vierbeiner vor ihr stehen, sodass seine Pfoten beinahe die pulsierende Barriere berührten. Er starrte Aileen an, stieß ein tiefes Geräusch aus, das so gar nichts mit einem Hund gemeinsam hatte. Aileen erwachte aus der Trance, sobald sie den Blick von Togo traf, und der Hexenkreis fiel in sich zusammen.
Exodus lockerte seinen Griff, und Lior kniete sich zu ihr.
„Aileen, sieh mich an!“ Er legte die geballte Kraft eines Söldners der Lugus in den Tonfall.
„Lior.“ Es lag so viel Verzweiflung in dem Wort. Sie umklammerte seinen Nacken, und er benötigte die Berührung ebenso wie sie.
Dàn räusperte sich. „Wir sollten schnellstmöglich von hier verschwinden.
Lior zog sie auf die Füße. „Kannst du laufen?“
Schwankend nickte sie, drückte die Schultern durch und holte tief Luft.
„Wieso bin ich nicht mehr in der Höhle? Er braucht unsere Hilfe. Und … und … Ralph war hier.“
Lior trug sie die Treppe hinauf.
„Du bist verhext worden, Ulaidh.“ Hatte man ihr Visionen eingetrichtert, oder hatte sie gesehen, was wirklich geschehen war? Lior würde seinen Arsch auf das Zweite verwetten. In diesem Fall wurden die Fäden nicht von Babylonus und Nosferat geführt, da steckte eine viel gewaltigere Kraft hinter.
Helligkeit erwartete sie im Haus. Babylonus betrachtete Aileen nachdenklich. „Das Gebäude ist leer. Hier gibt es nichts außer Staub und Zerfall. Das einzige Neue sind die Rollos.“ Er holte tief Luft. „Euch wird nicht angenehm sein, was ich jetzt sagen werde. Doch die Eistoten, die uns angegriffen haben, waren eine Illusion, selbst die, die uns angefleht hat. Wir alle sind einem mächtigen Zauber zum Opfer gefallen.“ Babylonus wirkte, als sei er bereit, dem Bösen die Kehle mit bloßen Händen aufzureißen.
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