Mitternachtsfalken: Roman
lassen, ohne zu riskieren, dass du verhaftet wirst, deshalb.« Ihr Blick fiel auf Harald, und ihre Stimme wurde ganz leise. »Auch du gehörst jetzt dazu.«
Zu Haralds Überraschung wirkte sie besorgt, als hätte sie Angst um ihn. Das freute ihn.
Er sah Arne an. »Na, was ist? Gehöre ich dazu?«
Arne seufzte und gab ihm die Kamera.
Harald erreichte Morlunde spät am folgenden Tag. Er ließ das Dampfmotorrad auf einem Parkplatz unweit des Anlegers stehen, weil er das Gefühl hatte, damit zu sehr aufzufallen. Da er nichts hatte, womit er es hätte abdecken können, und auch keine Möglichkeit bestand, es abzuschließen, verließ er sich darauf, dass ein gewöhnlicher Dieb keine Ahnung haben würde, wie er ein solches Vehikel in Gang setzen konnte.
Er kam rechtzeitig, bevor die letzte Fähre des Tages einlief. Während er am Anleger wartete, setzte langsam die Abenddämmerung ein, und Sterne erschienen wie die Lichter weit entfernter Schiffe über dem dunklen Meer. Ein betrunkener Insulaner kam den Kai entlanggeschwankt, glotzte Harald böse an, murmelte: »Aha, der junge Olufsen«, steuerte dann aber auf einen entlegenen Poller zu, auf dem er sich niederließ und umständlich versuchte, seine Pfeife anzustecken.
Die Fähre legte an, und eine Hand voll Leute ging an Land. Harald sah mit Schrecken, dass oben an der Gangway ein dänischer Polizist und ein deutscher Soldat standen. Als der Betrunkene an Bord ging, überprüften die beiden seine Personalien. Harald blieb schier das Herz stehen. Angst und Unsicherheit ließen ihn zögern. Sollte er wirklich an Bord gehen? Hatten die Behörden bloß, wie Arne prophezeit hatte, die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, nachdem ihnen die Skizzen in die Hände gefallen waren? Oder hielten sie nach Arne selber Ausschau? Wussten sie, dass er, Harald, der Bruder des Gesuchten war? Olufsen war kein seltener Name – aber vielleicht hatten sie ja Erkundigungen über die ganze Familie eingezogen. In seinem Schulranzen befand sich ein teurer Fotoapparat – zwar ein weit verbreitetes deutsches Fabrikat, unter Umständen aber trotzdem Verdacht erregend.
Er versuchte, sich zu beruhigen und seine Chancen kritisch abzuwägen. Es gab noch andere Möglichkeiten, nach Sande zu kommen. Drei Kilometer durchs offene Meer zu schwimmen, traute er sich kaum zu, doch vielleicht konnte er sich ein Ruderboot borgen oder eines stehlen. Wenn man ihn allerdings dabei beobachtete, wie er das Boot auf den Strand von Sande zog, würde man ihn garantiert einem Verhör unterziehen. Unterm Strich war es wohl am besten, den Ahnungslosen zu spielen.
Harald ging an Bord.
Der Polizist fragte ihn: »Warum wollen Sie nach Sande?«
Harald unterdrückte seine Empörung: Was fiel dem ein, eine solche Frage zu stellen? »Ich wohne dort«, sagte er. »Bei meinen Eltern.«
Der Polizist musterte sein Gesicht. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie je an Bord der Fähre gesehen zu haben, obwohl ich seit vier Tagen mitfahre.«
»Ich war in der Schule.«
»Dann ist der Dienstag aber ein ungewöhnlicher Tag für eine Heimfahrt.«
»Das Schuljahr ist doch gerade zu Ende.«
Der Polizist gab ein mürrisches Grunzen von sich, schien sich aber mit Haralds Antwort zufrieden zu geben. Er überprüfte die Adresse in Haralds Personalausweis und zeigte sie dem Soldaten. Der nickte und ließ Harald an Bord.
Harald ging bis ans andere Ende des Fährschiffs, wo er stehen blieb und wartete, bis sich sein rasender Herzschlag wieder beruhigte. Seine Erleichterung darüber, dass er den Kontrollpunkt ohne Beanstandung passiert hatte, mischte sich mit wildem Zorn auf den Polizisten, dem er auf einer Fahrt durch sein eigenes Heimatland Rede und Antwort stehen musste. Logisch betrachtet, war dies eine dumme Reaktion – nur half ihm diese Erkenntnis auch nicht weiter: Seine Empörung ließ sich nicht einfach abstellen.
Schlag Mitternacht legte die Fähre ab.
Es schien kein Mond. Im Sternenlicht war die flache Insel Sande nur eine weitere Erhebung, so wie die Wellen am Horizont. Harald hatte nicht damit gerechnet, dass er so bald schon wieder zurückkehren würde. Im Gegenteil – er hatte sich, als er die Insel am vergangenen Freitag verließ, sogar gefragt, ob er sie jemals wieder sehen würde. Nun kam er zurück – ein Spion mit einer Kamera im Ranzen und dem Auftrag, die Geheimwaffe der Nazis zu fotografieren. Vage ent- sann er sich, wie spannend und aufregend er es sich vorgestellt hatte, Mitglied einer Widerstandsbewegung zu
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