Mitternachtsfalken: Roman
flog quer über Sande hinweg aufs Festland zu, wobei ihr der Radarschirm der kleinen Antenne sogar noch folgte, als die Fluggeräusche längst verklungen waren. Harald kehrte in sein Versteck zurück und grübelte über seine Beobachtungen nach.
Die Schwärze des Himmels verfärbte sich allmählich grau. Zu dieser Jahreszeit setzte die Dämmerung schon vor drei Uhr morgens ein. Noch eine Stunde, und die Sonne würde aufgehen.
Harald nahm die Kamera aus seinem Schulranzen. Arne hatte ihm gezeigt, wie sie zu bedienen war. Während es allmählich heller wurde, suchte er sich sorgfaltig die besten Blickwinkel aus: Er wollte sämtliche technischen Details der Anlage im Bild festhalten.
Gegen Viertel vor fünf waren Arne und er übereingekommen, war die günstigste Zeit zum Fotografieren. Dann wäre die Sonne zwar schon aufgegangen, würde aber noch nicht über die Mauer in die Anlage scheinen. Direktes Sonnenlicht war nicht erforderlich – der Film in der Kamera war so lichtempfindlich, dass Detailtreue auch im Schatten gewährleistet war.
Je mehr Zeit verstrich, desto mehr Gedanken machte sich Harald über seine Flucht. Er war bei Nacht gekommen und im Schutze der Dunkelheit in den Stützpunkt eingedrungen, konnte aber mit seinem Rückzug nicht bis zur nächsten Nacht warten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Anlage selbst bei störungsfreiem Betrieb mindestens einmal pro Tag von einem Ingenieur kontrolliert wurde, war sehr groß. Harald musste also fliehen, sobald er die Aufnahmen im Kasten hatte – und das bedeutete: bei hellem Tageslicht. Dabei war die Gefahr erheblich großer als beim Anmarsch.
Er überlegte, welcher Weg der günstigste für ihn war. Wandte er sich nach Süden, in die Richtung, in der sein Elternhaus lag, betrug die Strecke bis zum Zaun nur etwa zweihundert Meter, doch das Gelände dort bestand fast nur aus vegetationsfreien Dünen. Im Norden bot sich dagegen die ihm schon vertraute Deckung durch Bäume und Gebüsch. Die »Nordroute« war zwar länger, aber vermutlich auch sicherer.
Er fragte sich, wie er sich vor einem Erschießungskommando verhalten würde. Würde er Ruhe und Stolz wahren und seine Todesangst unter Kontrolle halten können – oder zusammenbrechen und sich in einen stammelnden Idioten verwandeln, der um Gnade winselte und sich vor Angst in die Hose machte?
Er zwang sich zur Ruhe. Während der Minutenzeiger auf seiner Armbanduhr langsam ums Zifferblatt kroch, wurde das Licht immer heller. Von draußen waren keinerlei Geräusche zu hören. Soldaten mussten früh aus den Federn, doch Harald hoffte, dass vor sechs Uhr noch nicht allzu viel los war – und da wäre er längst verschwunden.
Endlich war es an der Zeit, die Aufnahmen zu machen. Der Himmel war wolkenlos, das Morgenlicht klar. Harald konnte jeden Niet und jeden Nagel der komplizierten Anlage deutlich erkennen. Sorgfältig stellte er das Objektiv ein und fotografierte den rotierenden Sockel des Geräts, die Kabel und das Antennengitter. Er klappte einen Zollstock auf, der von der Werkzeugbank des Klosters stammte und den er mitgenommen hatte, um auf manchen Bildern einen Maßstab beizufügen – eine kluge Idee, auf die er selbst gekommen war.
Dann musste er den Mauerring verlassen.
Er zögerte. Hier drinnen fühlte er sich sicher. Aber er brauchte auch noch Aufnahmen von den beiden kleinen Antennen. Er öffnete die Tür einen Spalt weit. Alles blieb ruhig. Am Geräusch der Brandung konnte er hören, dass die Flut einlief. Der Stützpunkt lag wie gebadet im wässerigen Licht eines Morgens am Meer. Nirgendwo ein Lebenszeichen – es war die Zeit, da die Menschen am tiefsten schlafen und selbst die Hunde träumen.
Mit Bedacht fotografierte er die beiden kleineren Antennen, die nur von niedrigen Mauern geschützt wurden. Noch immer war ihm deren Funktion nicht ganz klar, obwohl er inzwischen wusste, dass die eine ein Flugzeug verfolgt hatte, das sich in Sichtweite befand. Der eigentliche Sinn der Anlage lag jedoch darin, Bomber aufzuspüren, bevor sie in Sichtweite kamen, zumindest hatte Harald dies bisher angenommen. Vermutlich verfolgte die zweite kleine Antenne dann ein anderes Flugzeug.
Er machte eine Aufnahme nach der anderen und versuchte dabei, das Rätsel zu lösen. Wie mussten die drei Geräte aufeinander abgestimmt sein, um die Trefferquote der deutschen Abfangjäger entscheidend zu verbessern? Vielleicht diente die große Antenne zur Vorwarnung, wenn der Bomber noch weit entfernt war, und die eine der
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