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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sein. Die Realität war alles andere als ein Vergnügen, denn ihm war übel vor Angst.
    Noch schlimmer fühlte er sich, als er am vertrauten Anleger von Bord ging und auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Post und den Kolonialwarenladen sah, die sich, seit er denken konnte, nicht verändert hatten. Achtzehn Jahre lang hatte er hier in Sicherheit und Geborgenheit gelebt. Nun hatte er das Gefühl, er würde sich sein Leben lang nicht mehr sicher fühlen können.
    Er schlug sich zum Strand durch und lenkte seine Schritte gen Süden. Der weiße Sand schimmerte silbern im Sternenlicht. Von irgendwoher in den dunklen Dünen hörte er mädchenhaftes Gekicher. Eifersucht durchfuhr ihn, und er fragte sich, ob er jemals imstande sein würde, Karen auf diese Weise zum Kichern zu bringen.
    Die Morgendämmerung stand kurz bevor, als der Stützpunkt in Sicht kam. Harald erkannte die Zaunpfosten. Die Bäume und Büsche dahinter hoben sich wie dunkle Flecken vor den Dünen ab. Wenn ich das alles so gut überblicke, können es die Wachen auch, dachte er, ließ sich auf die Knie fallen und bewegte sich nur noch kriechend vorwärts.
    Keine Minute später war er dankbar für seine Vorsicht. Hinter dem Zaun machte er zwei Wachposten aus, die Seite an Seite patrouillierten und einen Hund mit sich führten.
    Das war neu. Früher hatten sie ihre Runden allein gedreht, und Hunde waren auch nicht dabei gewesen.
    Harald presste sich flach in den Sand. Die beiden Männer erweckten nicht den Eindruck, als wären sie übermäßig wachsam. Sie marschierten nicht, sondern schlenderten zwanglos dahin. Der eine rauchte eine Zigarette, und der andere, der den Hund an der Leine führte, sprach lebhaft auf ihn ein. Je näher sie kamen, desto deutlicher übertönte die Stimme des Soldaten das Geräusch der Wellen, die sich am Strand brachen. Der Mann schwadronierte in prahlerischem Ton von einer Frau namens Margareta.
    Die Entfernung zum Zaun betrug nicht ganz fünfzig Meter. Während die beiden Wachsoldaten langsam auf den Harald am nächsten gelegenen Punkt zukamen, fing der Hund an zu wittern und schlug zwei-, dreimal kurz an. Wahrscheinlich konnte er Harald riechen, wusste aber nicht, wo genau er sich versteckte. Der Soldat mit der Leine war nicht so gut ausgebildet wie der Hund. Er rief dem Tier zu, es solle die Schnauze halten, und berichtete, wie er Margareta dazu gebracht hatte, in der Waldhütte auf ihn zu warten. Harald rührte sich nicht.
    Wieder schlug der Hund an. Diesmal ließ einer der beiden Deutschen eine starke Taschenlampe aufflammen, und Harald presste rasch sein Gesicht in den Sand. Der Lichtstrahl tastete sich über die Dünen – und glitt über Harald hinweg, ohne innezuhalten.
    »Dann hat sie gesagt, ja, tu‘s, aber du musst ihn unbedingt rechtzeitig rausziehen«, erzählte der Soldat. Die beiden gingen weiter, und der Hund beruhigte sich wieder.
    Harald blieb reglos liegen, bis die Patrouille nicht mehr zu sehen war. Dann wandte er sich landeinwärts und suchte die Stelle, wo der Zaun durchs Gebüsch führte. Seine Befürchtung, dass die Soldaten dort abgeholzt haben könnten, erwies sich als unbegründet. Er kroch durchs Unterholz bis an den Zaun und richtete sich auf.
    Er zögerte. Noch konnte er kehrtmachen, ohne ein Gesetz gebrochen zu haben. Er konnte nach Kirstenslot zurückkehren, sich auf seine neue Arbeit konzentrieren, seine Abende im Dorfkrug verbringen und in den Nächten von Karen träumen. Er konnte sich – wie viele seiner Landsleute – auf den Standpunkt stellen, dass ihn der Krieg und die Politik nichts angingen. Doch er hatte diesen Gedanken noch gar nicht ganz zu Ende gedacht, als er sich auch schon davon abgestoßen fühlte. Allein die Vorstellung, wie er eine solche Entscheidung Arne und Karen – oder gar Onkel Joachim und Kusine Monika – erklären sollte, erfüllte ihn mit tiefer Scham darüber, dass er sie überhaupt in Erwägung gezogen hatte.
    Der Zaun war unverändert: Maschendraht, eins achtzig hoch, darüber zwei Reihen Stacheldraht. Harald setzte seinen Ranzen auf, um die Hände frei zu haben, kletterte hinauf, überwand vorsichtig den Stacheldraht und sprang auf der anderen Seite wieder hinunter.
    Jetzt hatte er sich festgelegt. Er befand sich illegal auf einem Militärstützpunkt und führte eine Kamera mit sich. Wenn sie ihn erwischten, würden sie ihn töten.
    Schnell machte er sich auf den Weg, trat leise auf, hielt sich in der Nähe der Büsche und Bäume und sah sich fortwährend

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