Mitternachtsfalken: Roman
unweit des Hafens. Es war ein schäbiges Etablissement, doch Hermias Schlafzimmer hatte ein robustes Schloss. Gegen Mitternacht fragte draußen eine lallende Stimme, ob sie nicht ein Gläschen mittrinken wolle, worauf Hermia aufstand und die Tür mit einer unter die Klinke geklemmten Stuhllehne blockierte.
Den Rest der Nacht lag sie hauptsächlich wach und fragte sich, ob Arne der Mann war, auf den man in der St.-Pauls-Gade geschossen hatte. Und wenn ja, wie schwer war er verwundet worden? Und wenn nicht, war er dann mit den anderen verhaftet worden oder lief er noch frei herum? Wen konnte sie fragen? Sie konnte mit Arnes Familie Kontakt aufnehmen, aber die hatte vielleicht noch gar keine Ahnung von den Vorfällen und würde bei der Frage, ob auf ihn geschossen worden sei, womöglich zu Tode erschrecken. Zwar kannte Hermia viele von Arnes Freunden – nur waren diejenigen, die möglicherweise hätten Bescheid wissen können, entweder tot oder verhaftet oder hielten sich versteckt.
In den frühen Morgenstunden kam ihr der Gedanke, dass es einen Menschen gab, der mit ziemlicher Sicherheit wusste, ob Arne verhaftet worden war: sein vorgesetzter Offizier.
Im Morgengrauen ging sie zum Bahnhof und nahm den erstbesten Zug nach Vodal.
Während der Zug gen Süden kroch und in jedem verschlafenen Dorf stehen blieb, dachte Hermia an Digby. Der war inzwischen bestimmt wieder in Schweden und wartete am Kai von Kalvsby ungeduldig auf sie, Arne und den Film. Aber der Fischer würde alleine zurückkehren und berichten, dass zum vereinbarten Termin niemand am Treffpunkt gewesen sei. Ob man sie geschnappt hatte oder ob sie bloß aufgehalten worden war, konnte Digby nicht wissen. Bestimmt machte er sich ebensolche Sorgen um sie wie sie sich um Arne.
Der Eindruck, den die Flugschule bei ihr erweckte, war absolut trostlos. Auf dem Flugfeld stand keine einzige Maschine, und auch am Himmel ließ sich keine blicken. Ein paar Flugzeuge wurden gewartet, und in einem Hangar wurde eine Gruppe von Flugschülern mit dem Innenleben eines Flugzeugmotors vertraut gemacht. Hermia wurde in das Stabsgebäude geschickt.
Sie musste ihren richtigen Namen angeben, denn es gab hier einige Leute, die sie kannten. Sie fragte nach dem Flugplatzkommandanten und fügte hinzu: »Sagen Sie ihm, ich bin eine Freundin von Arne Olufsen.«
Sie wusste, welches Risiko sie einging. Sie hatte den Kommandanten Renthe einmal kennen gelernt und erinnerte sich, dass er ein großer, dünner Mann mit einem Schnurrbart war. Seine politische Einstellung kannte sie nicht. War er ein Gefolgsmann der Nazis, konnte es kritisch werden – nicht auszuschließen, dass er dann die Polizei anrief und eine Engländerin meldete, die neugierige Fragen stellte. Sie wusste allerdings, dass Renthe – wie so viele andere – Arne mochte, und hoffte daher, er würde sie allein um seinetwillen nicht verraten. Doch Risiko hin oder her – sie musste unbedingt erfahren, was passiert war.
Man führte sie sofort zu ihm, und Renthe erkannte sie. »Mein Gott – Sie sind Arnes Braut!«, sagte er. »Ich dachte, Sie wären nach England zurückgekehrt.« Hastig schloss er die Tür hinter ihr – ein gutes Zeichen, dachte Hermia, denn wenn er mit mir unter vier Augen sprechen will, dann wird er wohl kaum die Absicht haben die Polizei zu rufen, zumindest nicht sofort.
Sie beschloss, ihren Aufenthalt in Dänemark nicht zu begründen. Sollte er seine eigenen Schlüsse ziehen. »Ich versuche herauszufinden, wo Arne sich aufhält«, sagte sie. »Ich fürchte, er steckt in Schwierigkeiten.«
»Viel schlimmer«, sagte Renthe. »Es wäre besser, Sie nähmen erst einmal Platz.«
Hermia blieb stehen. »Warum?«, rief sie. »Warum soll ich mich setzen? Was ist passiert?«
»Er ist vorigen Mittwoch verhaftet worden.«
»Ist das alles?«
»Er hat eine Schussverletzung davongetragen, als er vor der Polizei fliehen wollte.«
»Also war er es wirklich!«
»Wie bitte?«
»Eine Nachbarin hat mir erzählt, dass einer der Verhafteten angeschossen worden ist. Wie geht es ihm?«
»Bitte setzen Sie sich doch, meine Liebe.«
Diesmal widersprach Hermia nicht und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Sie haben schlimme Nachrichten, oder?«
»Ja.« Renthe zögerte. Dann sagte er leise und langsam: »Zu meinem größten Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Arne Olufsen tot ist.«
Gequält schrie sie auf. Im Herzen hatte sie es geahnt, doch war die Vorstellung, Arne verloren zu haben, zu schrecklich gewesen, um
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