Mitternachtsfalken: Roman
verlassen, kamen schon wieder die Tränen. Renthes Taschentuch war inzwischen zum Auswringen nass. Nie hätte Hermia gedacht, dass ihre Tränen derart unerschöpflich waren. Auf dem Weg zum Bahnhof sah sie noch immer alles wie durch einen Wasserschleier.
Erst als sie ihre nächsten Schritte überdachte, kehrte das Gefühl der inneren Leere zurück. Die Mission, um derentwillen Poul und nun auch Arne gestorben waren, musste schließlich noch erfüllt werden. Hermia brauchte Fotos von der Radaranlage auf Sande – und zwar rechtzeitig vor dem nächsten Vollmond. Außerdem hatte sie ein neues, zusätzliches Motiv: Rache. Die Erfüllung ihres Auftrags war die schlimmste Vergeltung, die sie den Männern, die Arne in den Tod getrieben hatten, antun konnte. Hinzu kam ein weiterer Vorteil: Ihre eigene Sicherheit war ihr jetzt vollkommen gleichgültig. Sie war bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen. Von nun an würde sie mit hoch erhobenem Kopf durch Kopenhagen gehen – und wehe dem, der es wagte, ihr Einhalt zu gebieten!
Aber was genau stand als Nächstes an? Was sollte sie tun?
Die Schlüsselfigur war möglicherweise Arnes Bruder. Harald wusste vermutlich, ob Arne vor seiner Verhaftung noch auf Sande gewesen war, und vielleicht sogar, ob er bei seiner Festnahme die Aufnahmen bei sich hatte. Außerdem glaubte Hermia zu wissen, wo sie Harald finden konnte.
Sie nahm den Zug zurück nach Kopenhagen. Er fuhr so langsam, dass es, als sie endlich in der Stadt ankam, für eine weitere Reise zu spät war. Also kehrte sie in ihre Absteige zurück, verriegelte die Tür ihres Zimmers, um vor den Zudringlichkeiten liebeshungriger Säufer gefeit zu sein, legte sich ins Bett und weinte sich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen nahm sie den ersten Zug, der nach Jansborg fuhr.
Die Schlagzeile der Zeitung, die sie am Bahnhof gekauft hatte, lautete: AUF HALBEM WEGE NACH MOSKAU. Die deutschen Invasionstruppen waren erstaunlich schnell vorangekommen. Nach nur einer Woche hatten sie Minsk eingenommen und standen inzwischen schon vor Smolensk, dreihundertfünfzig Kilometer weit auf russischem Territorium.
Bis zum Vollmond waren es noch acht Tage.
Der Schulsekretärin stellte sich Hermia als Arne Olufsens Verlobte vor. Unverzüglich wurde sie in Heis‘ Büro geführt. Der Mann, der für Arnes und Haralds Bildung zuständig war, erinnerte sie an eine bebrillte Giraffe, die über eine lange Nase hinweg auf die Welt unter sich hinabblickt. »Sie sind also Arnes zukünftige Frau«, sagte er liebenswürdig. »Wie schön, Sie kennen zu lernen.«
Von der Tragödie wusste er offenbar noch nichts. Ohne weiteres Vorgeplänkel kam Hermia zur Sache. »Sie wissen noch nicht Bescheid?«
»Bescheid? Ich bin mir nicht ganz sicher, worauf Sie.«
»Arne ist tot.«
»O Gott!« Heis ließ sich in seinen Sessel fallen.
»Ich dachte, Sie wären vielleicht schon informiert.«
»Nein, nein. Wann ist es denn passiert?«
»Gestern früh im Präsidium der Kopenhagener Polizei. Er hat sich das Leben genommen, um einem Gestapo-Verhör zuvorzukommen .«
»Wie furchtbar.«
»Heißt das, dass auch sein Bruder noch nicht Bescheid weiß?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sein Bruder ist nicht mehr bei uns.«
»Wieso das?«, fragte Hermia überrascht.
»Wir mussten ihn, was ich sehr bedauere, von der Schule verweisen.«
»Ich dachte, er wäre ein Vorzeigeschüler!«
»Das stimmt, aber er hat sich grobe Verfehlungen gegen unsere Schulordnung zuschulden kommen lassen.«
Hermia fehlte die Zeit, über Regelverstöße von Schuljungen zu diskutieren. »Wo ist er jetzt?«
»Zu Hause bei seinen Eltern, nehme ich an.« Heis runzelte die Stirn. »Warum fragen Sie?«
»Ich müsste mit ihm sprechen.«
»Über etwas Bestimmtes?« Heis‘ Miene war nachdenklich geworden.
Hermia zögerte. Die Vorsicht gebot, dass sie Heis nichts von ihrer Mission erzählte, doch seine letzten beiden Fragen deuteten an, dass er etwas wusste. Schließlich sagte sie: »Arne könnte bei seiner Verhaftung etwas bei sich gehabt haben, das mir gehört.«
Heis tat so, als interessiere ihn die Beantwortung seiner Fragen nur am Rande, doch dabei umklammerte er die Kante seines Schreibtischs mit solcher Kraft, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. »Darf ich fragen, worum es sich handelt?«
Hermia zögerte erneut, dann riskierte sie es. »Um eine Reihe von Fotografien.«
»Aha.«
»Das sagt Ihnen etwas?«
»Ja.«
Ob der Mann mir vertraut, fragte sich Hermia. Schließlich kennt er mich
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