Mitternachtsfalken: Roman
in dem frisch gestrichenen Haus mit den ordentlichen Gardinen auf der anderen Seite lebte eine ältere Frau, die immer wieder aus dem Fenster schaute.
Nachdem Hermia drei Stunden lang die Nachbarschaft beobachtet hatte, ging sie zu dem gepflegten Haus und klopfte an die Tür.
Eine rundliche Frau von etwa sechzig Jahren öffnete. Sie trug eine Schürze, warf einen Blick auf Hermias Rucksack und sagte: »Ich gebe keine Almosen.« Dabei lächelte sie so herablassend, als wolle sie mit der Zurückweisung ihren höheren gesellschaftlichen Rang betonen.
Hermia erwiderte das Lächeln. »Ich habe gehört, Nummer 53 wäre zu vermieten.«
Sofort änderte sich die Einstellung der Nachbarin. »Ach«, sagte sie, »Sie sind auf Wohnungssuche?«
»Ja.« Die Frau war so neugierig, wie Hermia es sich insgeheim erhofft hatte. Also gab sie dem Affen Zucker: »Ich heirate in Kürze.«
Reflexartig glitt der Blick der Frau zu Hermias linker Hand, und Hermia zeigte ihr ihren Verlobungsring.
»Sehr hübsch. Also, ich muss schon sagen, es wäre mir eine Erleichterung, eine ordentliche Familie nebenan zu wissen, vor allem nach den Vorfällen in den letzten Tagen.«
»Nach was für Vorfällen?«
Die Frau senkte die Stimme. »Das war ein Unterschlupf von kommunistischen Spionen!«
»Nein, wirklich?«
Die Frau verschränkte die Arme über ihrem ins Korsett gezwängten Busen. »Erst vorigen Mittwoch ist das Pack verhaftet worden.«
Ein kalter Schreck durchfuhr Hermia, doch schaffte sie es, weiterhin die Klatschtante zu spielen. »Du meine Güte! Gleich mehrere! Wie viele waren es denn?«
»Genau kann ich‘s nicht sagen. Da war einmal der Mieter, der junge Herr Toksvig, den ich eigentlich nicht für einen Übeltäter gehalten hätte, auch wenn er es Älteren gegenüber gelegentlich am gebührenden Respekt hat fehlen lassen. Nun, und dann dieser Mann von den Luftstreitkräften, der erst seit kurzem hier zu wohnen schien. Ein wirklich gut aussehender junger Mann, auch wenn er nie viel gesagt hat. Und dann waren da noch alle möglichen Leute, die meisten vom Militär.«
»Und die sind alle am Mittwoch verhaftet worden?«
»Direkt dort auf dem Bürgersteig, wo der Spaniel von Herrn Schmidt gerade sein Bein am Lampenpfosten hebt, dort war die Schießerei!«
Hermia rang unwillkürlich nach Luft und hielt die Hand vor den Mund. »O nein!«
Die Alte nickte zufrieden. Es freute sie, dass ihre Geschichte so gut ankam. Auf den Gedanken, dass einer der im Nachbarhaus verkehrenden Männer Hermias Bräutigam sein könne, kam sie nicht. »Ein Polizist in Zivil hat auf einen der Kommunisten geschossen.« Nach einer Kunstpause fügte sie überflüssigerweise hinzu: »Mit einer Pistole!«
Hermias Angst vor weiteren Schreckensnachrichten war so groß, dass es ihr fast die Sprache verschlug. Mühsam brachte sie ein paar Worte hervor: »Und wer war das, auf den der Polizist geschossen hat?«
»Ich habe es nicht gesehen«, sagte die Frau tief betrübt. »Ich war zu dem Zeitpunkt gerade drüben bei meiner Schwester in der Fischers Gade, um mir ein Strickmuster für eine Wolljacke auszuborgen. Herr Toksvig selber war es jedenfalls nicht, das kann ich mit Bestimmtheit sagen, denn Frau Eriksen im Laden hat alles mitbekommen und mir nachher erzählt, dass sie den Mann nicht kannte.«
»Wurde der Mann. getötet?«
»Nein, nein. Frau Eriksen meinte, er sei vielleicht ins Bein getroffen worden. Auf jeden Fall hat er furchtbar geschrien, als die Sanitäter ihn in den Krankenwagen hoben.«
Hermia war überzeugt, dass es Arne erwischt hatte. Ihr war, als spüre sie die Schussverletzung am eigenen Leib. Sie bekam kaum noch Luft und fühlte sich benommen. Nur noch fort wollte sie von dieser grässlichen alten Schwätzerin, die die tragischen Ereignisse so genüsslich schilderte. »Ich muss jetzt weiter«, sagte sie. »Was für eine entsetzliche Geschichte.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Wie dem auch sei – das Haus ist bestimmt bald zu vermieten!«, rief ihr die Frau noch nach.
Hermia entfernte sich, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdig en .
Aufs Geratewohl umrundete sie mehrere Ecken, bis sie auf ein Cafe stieß. Sie ging hinein, um ihre Gedanken zu sammeln. Eine heiße Tasse Ersatztee half ihr bei der Überwindung des Schocks. Sie musste unbedingt herausfinden, was Arne nun wirklich zugestoßen war und wo er sich gegenwärtig aufhielt. Zuerst aber brauchte sie selber eine Unterkunft für die Nacht.
Sie mietete ein Zimmer in einem billigen Hotel
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