Mitternachtsfalken: Roman
das zu Ende führen können, was er angefangen hat, dann wird er nicht umsonst gestorben sein. Wir müssen helfen.«
Frau Olufsen nickte. »Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß. Aber ich habe solche Angst.«
»Wo wollte Harald denn hin? Was hat er Ihnen gesagt?«
»Nach Kirstenslot«, antwortete Frau Olufsen. »Das ist ein Schloss außerhalb von Kopenhagen, der Wohnsitz der Familie Duchwitz, deren Sohn Josef mit Harald zur Schule gegangen ist.«
»Aber die Familie behauptet, er hielte sich dort nicht auf?«
Frau Olufsen nickte. »Aber er kann nicht weit weg sein. Ich habe mit Josefs Zwillingsschwester Karen gesprochen. Sie ist verliebt in Harald.«
»Woher willst du das denn wissen?«, fragte der Pastor ungläubig.
»Das hab ich am Tonfall ihrer Stimme gehört, als sie von ihm sprach.«
»Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Du hättest nur behauptet, das könne man doch gar nicht hören.«
Der Pastor lächelte reuevoll. »Ja, das hätte ich wohl.«
»Sie glauben also«, warf Hermia ein, »dass Harald in der Nähe von Kirstenslot ist und dass Karen weiß, wo er sich aufhält?«
»Ja.«
»Dann werde ich dort hinfahren müssen.«
Der Pastor zog eine Uhr aus seiner Westentasche. »Den letzten Zug erreichen Sie nicht mehr. Am besten bleiben Sie über Nacht hier. Morgen Früh bringe ich Sie dann zur Fähre.«
Hermia konnte nur noch flüstern: »Wie können Sie so nett zu mir sein? Meinetwegen ist Arne gestorben.«
»Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen«, sagte Pastor Olufsen. »Gelobt sei der Name des Herrn.«
D ie Hornet Moth war startklar. Harald hatte die neuen Steuerseile aus Vodal eingebaut. Zum Schluss hatte nur noch der platte Reifen repariert werden müssen. Mit dem Wagenheber aus dem Rolls-Royce hatte Harald das Flugzeug angehoben, den Reifen abmontiert und ihn bei der nächsten Autoreparaturwerkstatt von einem Mechaniker gegen Entgelt reparieren lassen. Außerdem hatte er sich überlegt, wie man notfalls die Maschine in der Luft auftanken konnte: Er wollte ein Kabinenfenster herausschlagen, einen Schlauch durchziehen und in den Einfüllstutzen des Tanks stecken. Schließlich hatte er die Tragflächen aufgeklappt und mit den dafür vorgesehenen Stahlbolzen in Flugposition verriegelt. Jetzt nahm das Flugzeug die ganze Breite der Kirche ein.
Er sah hinaus. Es war ein ruhiger Tag, der Wind wehte nur leicht, und die lockere Wolkendecke reichte gerade aus, die Hornet Moth vor der Luftwaffe zu verbergen. Heute Abend würden sie fliegen.
Allein beim Gedanken an den bevorstehenden Flug bekam Harald vor Angst Magenkrämpfe. Schon der einfache Demonstrationsflug mit der Tiger Moth über der Flugschule in Vodal war ihm wie ein haarsträubendes Abenteuer vorgekommen. Und nun wollte er Hunderte von Kilometern übers offene Meer fliegen!
Ein Flugzeug wie die Hornet Moth sollte sich dicht an der Küste halten, sodass es im Notfall aufs Festland gleiten konnte. Wer von Dänemark nach England fliegen wollte, konnte theoretisch den Küstenlinien von Dänemark, Deutschland, Holland, Belgien und Frankreich folgen. Doch da Karen und Harald sich von den von Deutschland besetzten Ländern fern halten mussten, waren sie gezwungen, weit draußen über der Nordsee zu fliegen. Und damit stand fest, dass sie im Notfall nirgendwo Zuflucht suchen konnten.
Haralds Bedenken waren noch nicht verflogen, als Karen plötzlich durchs Fenster schlüpfte. Wie Rotkäppchen hatte sie einen Korb dabei. Sein Herz schlug höher bei ihrem Anblick. Den ganzen Tag lang hatte er während der Arbeit an der Hornet Moth daran denken müssen, wie sie sich am frühen Morgen nach dem erfolgreichen Benzinklau geküsst hatten. Immer wieder hatte er sich mit den Fingerspitzen über die Lippen gestrichen, um die Erinnerung aufrechtzuerhalten.
Jetzt betrachtete Karen die Hornet Moth und sagte: »Toll!«
Es freute Harald, dass er sie beeindruckt hatte. »Sieht hübsch aus, was?«
»Ja, aber so bringst du sie nicht durchs Portal!«
»Ich weiß. Ich werde die Tragflächen zurückklappen und sie draußen wieder in Flugposition bringen müssen.«
»Warum hast du sie dann jetzt schon verriegelt?«
»Zur Übung. Dann geht‘s beim nächsten Mal schneller.«
»Wie schnell?«
»Ich weiß nicht genau.«
»Was ist mit den Soldaten? Wenn sie uns sehen.«
»Die werden schon schlafen.«
Karens Miene war ernst. »Wir sind so weit, nicht wahr?«
»Wir sind so weit.«
»Wann werden wir starten?«
»Heute Nacht natürlich.«
»O du
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