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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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darunter befand, der die Gesichter überprüfte. Wenn ich auf die Idee gekommen bin, dass jemand anders Arnes Mission übernommen hat, dann ist das auch der Polizei zuzutrauen, dachte sie.
    Erst jetzt fiel ihr ein, dass ihr die ganze Beerdigung sogar ein paar Stunden Zeit zu stehlen drohte, konnte sie doch erst danach Arnes Elternhaus aufsuchen. Vorher waren bestimmt Nachbarinnen in der Küche, die bei der Essensvorbereitung halfen, während sich in der Kirche Gemeindemitglieder um den Blumenschmuck kümmerten, und ein nervöser Bestattungsunternehmer wurde hin und her laufen, um die Sargträger einzuweisen und einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Erst später, wenn sie ihren Tee getrunken und ihr
    Smörrebröd gegessen hatten, wurden die Trauergäste die engsten Anverwandten mit ihrem Kummer wieder allein lassen.
    Hermia musste also zunächst einmal eine Menge Zeit totschlagen, doch bei allem, was sie tat oder ließ, war Vorsicht das oberste Gebot. Wenn ich heute noch von Harald diesen Film bekomme, dachte sie, kann ich morgen Früh mit dem ersten Zug nach Kopenhagen fahren, am Abend nach Bornholm und am nächsten Morgen nach Schweden übersetzen. Zwölf Stunden später bin ich dann in London – und bis zum Vollmond bleiben noch zwei Tage. Es lohnt sich also, wenn ich mir auf dieser Insel ein paar Stunden um die Ohren schlage.
    Am Kai von Sande verließ sie die Fähre und ging zu Fuß Richtung Hotel. Hineingehen konnte sie nicht, weil sie befürchten musste, jemandem zu begegnen, der sich an sie erinnerte; also ging sie weiter zum Strand. Es war eigentlich kein richtiges Badewetter – der Himmel war bewölkt, und vom Wasser her wehte ein kühler Wind -, doch die altmodischen gestreiften Badehäuschen waren heraus gerollt worden, und mehrere Leute planschten in den Wellen herum oder machten ein Picknick im Sand. Hermia fand eine geschützte Mulde in den Dünen, ließ sich dort nieder und war nun nicht mehr von den anderen Badegästen und Urlaubern zu unterscheiden.
    Dort saß sie und wartete, und sie wartete immer noch, als die Flut kam und ein Pferd, das zum Hotel gehörte, die Badehüttchen weiter den Strand hinaufzog. Wie viel Zeit hatte sie in den vergangenen beiden Wochen schon mit Herumsitzen und Warten verbracht!
    Arnes Eltern war sie später noch ein drittes Mal begegnet, und zwar in Kopenhagen, wohin das Ehepaar Olufsen nur einmal alle zehn Jahre reiste. Arne hatte sie in den Tivoli eingeladen und sich von seiner flottesten und amüsantesten Seite gezeigt. Er hatte die Serviererinnen mit seinem Charme betört, seine Mutter zum Lachen gebracht und sogar seinen sauertöpfischen Vater dazu animiert, ein paar Anekdoten aus Jansborger Schultagen zum Besten zu geben. Wenige Wochen später waren die Nazis gekommen, und Hermia hatte das Land verlassen – in Schimpf und Schande, wie sie fand, denn sie war mit zahlreichen anderen Diplomaten aus mit Deutschland verfeindeten Ländern in einem verschlossenen Sonderzug außer Landes gebracht worden.
    Und nun war sie wieder hier, versuchte einem tödlichen Geheimnis auf die Spur zu kommen und setzte dabei nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das anderer Menschen aufs Spiel.
    Um halb fünf verließ sie ihren Schlupfwinkel. Das Pfarrhaus lag fünfzehn Kilometer vom Hotel entfernt. Wenn sie stramm marschierte, würde sie gegen sieben Uhr ankommen. Bis dahin, dachte sie, haben sicherlich alle Gäste das Haus verlassen, und ich werde Harald und seine Eltern still in der Küche sitzend vorfinden.
    Der Strand war nicht menschenleer. Mehrmals auf ihrem langen Weg begegnete sie Leuten. Sie schlug jedes Mal einen weiten Bogen um sie und ließ sie in dem Glauben, sie sei eine ungesellige Urlauberin. Niemand erkannte sie.
    Endlich sah sie die Silhouetten der niedrigen Kirche und des Pfarrhauses. Als sie daran dachte, dass dies Arnes Zuhause gewesen war, flammte ihre Trauer wieder auf. Niemand war zu sehen. Beim Näherkommen erblickte Hermia das frische Grab auf dem kleinen Friedhof.
    Mit übervollem Herzen überquerte sie den Gottesacker und blieb vor dem Grab ihres Verlobten stehen. Sie nahm die Sonnenbrille ab. Viele, viele Blumen lagen auf dem Grab: Der Tod eines jungen Menschen rührte die Leute immer besonders. Der Kummer überwältigte sie, und sie begann haltlos zu schluchzen. Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie fiel auf die Knie. Sie nahm eine Hand voll von der aufgehäuften Erde auf und musste an Arnes Leiche denken, die darunter lag. Ich habe an

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