Mitternachtsfalken: Roman
unteren Tragfläche zu packen, doch dazu war sie zu dick, und er fand keinen Halt. »Scheiße!«, schrie er, trat einen Schritt vor, dem schwingenden Flügel nach, griff nach der Stahltakelung zwischen oberer und unterer Tragflache, bekam sie zu fassen, und konnte somit den Schwung abfedern. Doch dabei schnitt ihm der Draht in die Hand. Er schrie auf und ließ automatisch los. Der Flügel schwenkte zurück und schlug mit einem kräftigen Knall gegen den Rumpf.
Harald verfluchte seine Nachlässigkeit und ging zum Schwanz, wo er die untere Flügelspitze mit beiden Händen packte und nach außen zog, um festzustellen, ob ein Schaden am Rumpf entstanden war. Zu seiner namenlosen Erleichterung war aber allem Anschein nach nichts passiert. Die Hinterkanten beider Tragflächen waren intakt, und auch am Rumpf war nichts zu sehen. Alles war heil geblieben – bis auf die Haut seiner rechten Handfläche.
Er leckte das Blut ab und ging auf die andere Seite der Hornet Moth. Diesmal blockierte er den unteren Flügel mit einer Teekiste voller alter Zeitschriften, sodass er sich nicht bewegen konnte. Dann zog er die Bolzen, ging um die Tragfläche herum, schob die Kiste aus dem Weg und hielt den Flügel fest, sodass er nur langsam in seine Ruhestellung zurückschwang.
In diesem Moment kam Karen zurück.
»Hast du alles?«, fragte er sie nervös.
Karen ließ ihren Korb auf den Boden fallen. »Wir können heute Nacht nicht fliegen.«
»Was?« Er fühlte sich hintergangen. Für nichts und wieder nichts hatte er all diese Ängste durchlitten. »Warum nicht?«, fragte er wütend.
»Ich tanze morgen.«
»Du tanzt?« Er war außer sich. »Wie kannst du das für wichtiger halten als unsere Mission?«
»Es ist eine ganz besondere Gelegenheit, wirklich! Ich habe dir doch erzählt, dass ich als dritte Besetzung die Hauptrolle einstudiere. Die halbe Truppe liegt auf der Nase, irgendeine Darmgrippe. Zwar gibt es zwei Besetzungen, aber die für die Hauptrolle sind beide krank. Deshalb muss ich antreten. Das ist eine Riesenchance für mich!«
»Ein verdammtes Pech, wenn du mich fragst.«
»Ich werde auf der großen Bühne im Königlichen Theater auftreten, und rate mal, was noch? Der König wird kommen!«
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ohne es zu merken. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Ich hab eine Karte für dich zurücklegen lassen. Du kannst sie an der Abendkasse abholen.«
»Ich gehe da nicht hin.«
»Nun sei nicht so eklig! Wir können morgen Nacht fliegen, nach meiner Vorstellung. Danach steht das Ballett eine Woche lang nicht auf dem Spielplan, und wenn es dann weitergeht, ist eine von den beiden anderen wieder gesund.«
»Dieses verdammte Ballett ist mir total schnurz – was ist mit dem Krieg? Heis rechnet damit, dass die Royal Air Force einen massiven Luftangriff plant. Da werden unsere Fotos benötigt – und zwar rechtzeitig vorher! Denk doch mal an all die Menschenleben, die auf dem Spiel stehen!«
Karen seufzte, und ihre Stimme wurde weicher. »Ich wusste, dass du so denken würdest, und ich hab mir auch überlegt, ob ich auf meine Chance verzichten soll. Aber das kann ich einfach nicht. Und davon mal ganz abgesehen: Selbst wenn wir erst morgen fliegen, sind wir immer noch drei Tage vor Vollmond in England.«
»Aber hier befinden wir uns weitere vierundzwanzig Stunden in tödlicher Gefahr!«
»Hör mal, niemand weiß etwas von diesem Flugzeug – wieso sollte man uns ausgerechnet morgen auf die Schliche kommen?«
»Möglich ist es.«
»Ach, sei doch nicht so kindisch! Möglich ist alles!«
»Ich und kindisch? Ich werde von der Polizei gesucht, das weißt du. Ich bin auf der Flucht und will so bald wie möglich raus aus diesem Land.«
Jetzt wurde Karen wütend. »Du könntest ruhig ein wenig Verständnis für mich haben und begreifen, wie wichtig mir diese Vorstellung ist.«
»Hab ich aber nicht.«
»Schau mal, ich könnte in diesem dummen Flugzeug sterben.«
»Ich genauso.«
»Und wenn ich schon in der Nordsee ertrinke oder auf deinem zusammengebastelten Floß erfriere, dann möchte ich vorher noch einmal daran denken können, wie großartig ich vor dem König getanzt habe. Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Nein, das kann ich nicht!«
»Dann kannst du mich mal!«, fauchte Karen und war gleich darauf wieder durch das Fenster verschwunden.
Harald starrte ihr hinterher. Er war wie vom Donner gerührt. Eine ganze Minute verstrich, bevor er sich wieder bewegen konnte. Dann warf er
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