Mitternachtsfalken: Roman
einen Blick in den Korb, den Karen mitgebracht hatte. Er enthielt zwei Flaschen Mineralwasser, ein Paket Kräcker, eine Taschenlampe, eine Ersatzbatterie und zwei Ersatzbirnen. Landkarten hatte sie keine hineingelegt, dafür einen alten Schulatlas. Harald nahm ihn heraus und schlug ihn auf. Auf dem Vorsatzblatt stand in mädchenhafter Schönschrift: Karen Duchwitz, Klasse 3.
»Verfluchter Mist!«, sagte Harald.
P eter Flemming stand in Morlunde am Kai und beobachtete die letzte Fähre, die an diesem Tag von Sande her einlief. Er wartete auf eine geheimnisvolle Frau.
Dass Harald tags zuvor nicht zum Begräbnis seines Bruders erschienen war, hatte ihn zwar enttäuscht, aber nicht wirklich überrascht. Er hatte sich alle Trauergäste genau angesehen. Die meisten stammten von der Insel, und Peter kannte sie seit seiner Kindheit. Interessant waren die anderen. Nach dem Gottesdienst hatte er beim Tee im Pfarrhaus all jene angesprochen, die ihm unbekannt waren: zwei ehemalige Schulkameraden Arnes, ein paar Kameraden vom Militär und diverse Freunde aus Kopenhagen. Er hatte ihre Namen auf der Liste, die ihm der Polizist auf der Fähre gegeben hatte, abgehakt. Nur ein Name war übrig geblieben: Fräulein Agnes Ricks.
Er war zum Anleger zurückgekehrt und hatte den Polizisten gefragt, ob Agnes Ricks schon wieder aufs Festland übergesetzt hätte. »Nein, noch nicht«, hatte der Mann geantwortet. »Ich würde mich an sie erinnern. Sie hat ganz schön Holz vor der Hütte.« Er grinste und wölbte anschaulich die Hände vor seiner Brust.
Peter hatte auch im Hotel seines Vaters nach Agnes Ricks gefragt. Nein, hieß es dort, eine Dame dieses Namens habe sich kein Zimmer genommen.
Er war neugierig. Wer war dieses Fräulein Ricks, und was tat sie hier? Sein Instinkt sagte ihm, dass sie irgendetwas mit Arne Olufsen zu tun hatte. Das mochte Wunschdenken sein – aber sie war die letzte Spur, die er hatte.
Es war nicht ratsam, am Kai von Sande herumzulungern; da fiel er zu sehr auf. Er setzte daher aufs Festland über und mischte sich in dem weiträumigen Handelshafen unter die Leute. Wer nicht auftauchte, war Fräulein Ricks. Die Fähre lag nun bis zum nächsten Morgen am Pier, und Peter Flemming zog sich ins Hotel Oesterport zurück.
Von der kleinen Telefonzelle im Foyer aus rief er Tilde Jespersen in ihrer Wohnung in Kopenhagen an.
»War Harald auf der Beerdigung?«, fragte sie sofort.
»Nein.«
»Verdammt.«
»Ich habe die Trauergäste überprüft. Keine Hinweise. Aber es gibt noch eine Spur, die ich verfolge, ein Fräulein Agnes Ricks. Was ist bei dir los?«
»Ich hab den ganzen Tag lang mit Polizeistationen überall im Land telefoniert. Auf sämtliche Schulkameraden von Harald sind jetzt Leute von uns angesetzt. Morgen müsste ich von ihnen hören.«
Peter wechselte abrupt das Thema. »Du bist mitten in der Arbeit abgehauen«, sagte er.
»Das war ja auch nicht gerade die übliche Arbeit, oder?« Sie hatte sich offenkundig auf diese Frage vorbereitet.
»Wieso nicht?«
»Du hast mich mitgenommen, weil du mit mir schlafen wolltest.«
Peter knirschte mit den Zähnen. Indem er mit ihr intim geworden war, hatte er gegen seine eigene Berufsauffassung verstoßen und konnte ihr jetzt keinen Verweis erteilen. Wütend fragte er sie: »Ist das deine Ausrede?«
»Es ist keine Ausrede.«
»Du hast gesagt, es hätte dir nicht gefallen, wie ich die Olufsens verhört habe. Das ist kein Grund für eine Polizistin, einfach abzuhauen.«
»Ich bin nicht vor der Arbeit abgehauen. Ich wollte bloß nicht mit einem Mann schlafen, der zu so etwas imstande ist.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan!«
Ihre Stimme nahm einen anderen Tonfall an. »Nicht ganz.«
»Was soll das heißen?«
»Es wäre ja in Ordnung, wenn du aus beruflichen Gründen so hart vorgegangen wärst. Das könnte ich respektieren. Aber es hat dir Spaß gemacht. Du hast den Pastor gequält und seine Frau in Angst und Schrecken versetzt – und du hast es genossen. Ihr Leiden hat dir Befriedigung verschafft. Mit so einem Mann kann ich nicht ins Bett gehen.«
Peter legte auf.
Er schlief nur wenig in dieser Nacht. Lange noch lag er wach im Bett und dachte an Tilde. Er malte sich aus, wie er sie prügelte. Am liebsten wäre er in ihre Wohnung gegangen, hätte sie im Nachthemd aus dem Bett gezerrt und bestraft. In seiner Fantasie bettelte sie um Gnade, doch er achtete nicht auf ihre Schreie. Im Verlauf des Handgemenges zerriss ihr Nachthemd, und er wurde scharf und
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