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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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dir gezweifelt, sagte sie im Geiste zu ihm, aber du warst der Tapferste von uns allen.
    Schließlich legte sich der Sturm der Gefühle, und sie konnte wieder aufstehen. Sie wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel trocken. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
    Als sie sich vom Grab abwandte, sah sie die hohe Gestalt und den runden Kopf von Arnes Vater. Der Pastor stand nur wenige Meter von ihr entfernt und beobachtete sie. Er musste sich lautlos genähert und gewartet haben, bis sie sich wieder erhob. »Hermia«, sagte er. »Gott segne Sie.«
    »Danke, Herr Pastor.« Sie hätte ihn gerne umarmt, aber dazu war er nicht der Typ, deshalb schüttelte sie ihm nur die Hand.
    »Sie sind zu spät gekommen zum Begräbnis.«
    »Mit Absicht. Ich kann es mir nicht erlauben, gesehen zu werden.«
    »Dann kommen Sie lieber mit ins Haus.«
    Hermia folgte ihm durchs spröde Gras. Frau Olufsen war in der Küche, stand diesmal aber nicht am Spülstein. Hermia nahm an, dass die Nachbarinnen nach dem Leichenschmaus aufgeräumt und das Geschirr gespült hatten. Arnes Mutter saß im schwarzen Kleid und Hut am Küchentisch. Als sie Hermia sah, brach sie in Tränen aus.
    Hermia umarmte sie, doch ihr Mitgefühl wurde durch die Tatsache beeinträchtigt, dass die Person, die sie suchte, nicht anwesend war. Sobald es der Anstand erlaubte, sagte sie; »Ich hatte gehofft, Harald wäre hier.«
    »Er ist nicht da«, sagte Frau Olufsen.
    Hermia hatte das schreckliche Gefühl, die lange, gefahrvolle Reise völlig umsonst auf sich genommen zu haben. »Ist er denn nicht zur Beerdigung gekommen?«
    Frau Olufsen schüttelte weinend den Kopf.
    Hermia bemühte sich nach Kräften, ihre tiefe Enttäuschung zu verbergen. »Und wo kann ich ihn finden?«, fragte sie.
    »So nehmen Sie doch Platz«, sagte der Pastor.
    Hermia zwang sich zur Geduld. Der Pastor war es gewohnt, dass man ihm gehorchte. Wenn sie sich seinem Willen widersetzte, erreichte sie gar nichts.
    »Wollen Sie eine Tasse Tee?«, fragte Frau Olufsen. »Es ist natürlich kein echter.«
    »Ja, gerne.«
    »Und Smörrebröd? Es ist so viel übrig geblieben.«
    »Nein, vielen Dank.« Obwohl Hermia den ganzen Tag nichts gegessen hatte, war sie jetzt zu angespannt dazu. »Wo ist Harald?«, fragte sie ungeduldig.
    »Das wissen wir nicht«, erwiderte der Pastor.
    »Wie das?«
    Der Pastor wirkte beschämt, was bei ihm höchst selten vorkam. 406 »Harald und ich, wir haben uns gestritten. Ich war genauso starrsinnig wie er. Seit jenem Tag erinnert der Herr mich daran, wie kostbar die Zeit ist, die ein Mann mit seinen Söhnen verbringen darf.« Eine Träne rollte über sein faltiges Gesicht. »Harald ist im Zorn gegangen und hat sich geweigert, uns zu sagen, wohin. Fünf Tage später kam er für ein paar Stunden zurück, und es gab so etwas wie eine Versöhnung. Bei dieser Gelegenheit hat er seiner Mutter gesagt, er wolle bei einem Schulkameraden unterkommen, doch als wir dort anriefen, teilte man uns mit, er wäre nicht dort.«
    »Glauben Sie, er ist immer noch zornig auf Sie?«
    »Nein«, sagte der Pastor. »Oder doch, ja, vielleicht. Aber das ist nicht der Grund für sein Verschwinden.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Mein Nachbar Axel Flemming hat einen Sohn, der bei der Polizei in Kopenhagen ist.«
    »Ich erinnere mich«, sagte Hermia. »Peter Flemming.«
    Frau Olufsen warf ein: »Er hatte doch tatsächlich den Nerv, zur Beerdigung zu kommen.« Ihr Ton war verbittert, was ganz untypisch für sie war.
    »Peter behauptet«, fuhr der Pastor fort, »Arne hätte für die Engländer spioniert und Harald setze sein Werk fort.«
    »Aha.«
    »Das scheint Sie gar nicht zu überraschen.«
    »Ich will Sie nicht belügen«, sagte Hermia. »Peter Flemming hat Recht. Ich habe Arne gebeten, Fotografien von dem Militärstützpunkt hier auf der Insel zu machen. Und Harald hat den Film.«
    »Wie konnten Sie?«, rief Frau Olufsen. »Deswegen ist Arne jetzt tot! Wir haben unseren Sohn verloren, und Sie Ihren Bräutigam! Wie konnten Sie nur?«
    »Es tut mir Leid«, flüsterte Hermia.
    Der Pastor sagte: »Wir haben Krieg, Lisbeth. Viele junge Männer sterben im Kampf gegen die Nazis. Es ist nicht Hermias Schuld.«
    »Ich muss den Film bekommen«, sagte Hermia. »Und deshalb muss ich Harald finden. Wollen Sie mir helfen?«
    »Ich will nicht auch noch meinen zweiten Sohn verlieren«, sagte
    Frau Olufsen. »Das könnte ich nicht ertragen!«
    Der Pastor ergriff ihre Hand. »Arne hat gegen die Nazis gearbeitet. Wenn Hermia und Harald

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