Mitternachtsfalken: Roman
Weg zu laufen. Da sie seine Vorliebe für Jazz kannte, war sie zuerst zum Club Hot gegangen, doch der war geschlossen. Auch in den Bars und Cafes, in denen sich die jungen Leute zu treffen pflegten, hatte sie ihn nirgends gefunden. Alle ihre Bemühungen waren erfolglos geblieben.
An diesem Vormittag wollte sie sein Elternhaus aufsuchen.
Sie hatte zunächst mit dem Gedanken gespielt, im Pfarrhaus anzurufen, doch das damit verbundene Risiko war selbst ihr zu hoch: Gab sie ihren richtigen Namen an, bestand die Gefahr, abgehört und verraten zu werden. Gab sie einen falschen an oder gar keinen, so konnte es passieren, dass sie Harald verschreckte und zur Flucht veranlasste. Es ging nicht anders: Sie musste sich an Ort und Stelle blicken lassen.
Und damit wuchs das Risiko der Entdeckung. Morlunde war immerhin noch ein Städtchen, auf der kleinen Insel Sande aber kannte jeder jeden. Hermia konnte nur hoffen, dass die Insulaner sie für eine Urlauberin hielten und nicht zu genau ansahen.
Sie hatte keine Alternative. Bis zum Vollmond waren es nur noch fünf Tage.
Mit ihrem Rucksack auf dem Rücken ging sie zum Hafen hinunter und bestieg die Fähre. Am Ende der Gangway standen ein deutscher Soldat und ein dänischer Polizist. Sie wies ihre Papiere vor, die auf den Namen Agnes Ricks ausgestellt waren und schon drei Kontrollen überstanden hatten. Dennoch zitterte sie innerlich vor Angst, als sie den beiden Uniformierten ihre Fälschungen präsentierte.
Der Polizist studierte ihren Ausweis gründlich. »Sie kommen von weit her, Fräulein Ricks.«
Hermia hatte sich eine Legende ausgedacht. »Ich fahre zur Beerdigung eines Verwandten.« Das war ein guter Vorwand für eine weite Reise. Sie wusste zwar nicht genau, wann Arnes Begräbnis stattfinden sollte, doch eine Familienangehörige, die ein, zwei Tage zu früh kam, machte sich nicht verdächtig, schon gar nicht in Kriegszeiten und angesichts der unsicheren Verkehrsverhältnisse.
»Es dürfte sich um das Begräbnis von Arne Olufsen handeln.«
»Ja.« Heiße Tränen traten ihr in die Augen. »Ich bin nur eine Kusine zweiten Grades, aber meine Mutter und Lisbeth Olufsen standen sich sehr nahe.«
Der Polizist spürte ihren Kummer trotz der Sonnenbrille und sagte freundlich: »Mein Beileid.« Er gab ihr die Papiere zurück. »Sie sind gut in der Zeit.«
»Wirklich?« Das wies daraufhin, dass die Beerdigung heute stattfand. »Ich weiß gar nicht genau, wann die Trauerfeier stattfindet. Ich wollte mich erkundigen, kam aber telefonisch nicht durch.«
»Soweit ich weiß, ist der Gottesdienst heute Nachmittag um drei.«
»Vielen Dank.«
Hermia ging weiter und lehnte sich an die Reling. Als die Fähre aus dem Hafen tuckerte, richtete sie ihren Blick übers Wasser auf die flache, konturenlose Insel und rief sich ihren ersten Aufenthalt dort in Erinnerung. Es war für sie ein Schock gewesen, die kalten, schmucklosen Räume zu sehen, in denen Arne aufgewachsen war, und seinen gestrengen Eltern zu begegnen. Wie eine so ernste und freudlose Familie einen so heiteren, fröhlichen Menschen wie Arne hatte hervorbringen können, war ihr noch immer schleierhaft.
Sie war selber ein ziemlich ernster Mensch – oder zumindest schienen ihre Kollegen sie für einen solchen zu halten. Die Rolle, die sie in Arnes Leben gespielt hatte, ähnelte in gewisser Weise der seiner Mutter: Sie hatte ihn zur Pünktlichkeit an- und vom Trinken abgehalten, während Arne ihr beibrachte, das Leben etwas lässiger zu betrachten und sich mehr Spaß zu gönnen. Einmal hatte sie zu ihm gesagt: »Auch Spontaneität hat ihre Zeit und ihren Ort« – eine Bemerkung, über die Arne dann den ganzen Tag lang hatte lachen müssen.
Sie war noch ein zweites Mal auf Sande gewesen, zu Weihnachten. Ihr war es eher wie die Fastenzeit vorgekommen. Für die Olufsens war Weihnachten eine ernstes religiöses Fest, kein üppiges Gelage. Dennoch hatte sie die ruhigen Ferien genossen, hatte mit Arne Kreuzworträtsel gelöst, Harald kennen gelernt, Frau Olufsens einfache Mahlzeiten verspeist und im Pelzmantel lange Spaziergange am kalten Strand unternommen, Hand in Hand mit ihrem Liebsten.
Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, bei ihrem nächsten Besuch auf der Insel könne Arnes Beerdigung der Anlass sein.
Nur allzu gerne hatte sie an der Trauerfeier teilgenommen, aber sie wusste, dass das nicht in Frage kam: Zu viele Menschen wurden sie dort sehen und erkennen. Es war sogar gut möglich, dass sich ein Kriminalbeamter
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