Mitternachtsfalken: Roman
gehen. Harald beschloss, ihnen zu folgen.
Qualvoll langsam kam er aus seiner Reihe. Er musste an sich halten, um nicht einfach über die Knie und Oberschenkel der Leute zu springen. Dennoch erreichte er den Seitengang gleichzeitig mit Karens Eltern. »Ich komme mit«, sagte er zu ihnen.
»Wer sind Sie?«, fragte Karens Vater.
Er bekam die Antwort von seiner Frau: »Das ist Harald, Josefs Freund. Er war doch vor ein paar Wochen bei uns zu Gast. Karen ist in ihn verschossen, also lass ihn mitkommen.«
Herr Duchwitz brummte ein ungnädiges »Meinetwegen«. Harald hatte keine Ahnung, woher Frau Duchwitz wusste, dass Karen in ihn »verschossen« war. Auf jeden Fall war er erleichtert, weil man ihn gewissermaßen als Familienmitglied akzeptiert hatte.
Als sie zum Ausgang kamen, wurde es plötzlich still im Publikum. Harald und das Ehepaar Duchwitz drehten sich um. Der Vorhang war wieder aufgegangen, und auf der Bühne stand allein der Mann in Schwarz.
»Majestät, meine Damen und Herren«, sagte er.
»Durch einen glücklichen Zufall saß unser Arzt heute Abend im Publikum.« Harald vermutete, dass sich niemand, der mit der Balletttruppe zu tun hatte, eine Aufführung vor dem König entgehen lassen wollte. »Er untersucht gerade unsere beiden Ersten Tänzer. Wie er mir soeben mitteilte, scheint keiner von beiden ernstlich verletzt zu sein.«
Im Publikum wurde vereinzelt applaudiert.
Harald fiel ein Stein vom Herzen. Erst jetzt, da er wusste, dass Karen nicht viel passiert war, stellte er sich die Frage nach den möglichen Auswirkungen ihres Unfalls auf die geplante Flucht. Angenommen wir schaffen es, die Hornet Moth zu besteigen – wird Karen überhaupt noch imstande sein, sie zu fliegen?
»Wie Sie Ihrem Programmheft entnehmen konnten«, fuhr der Mann in Schwarz fort, »sind heute Abend beide Haupt- und viele Nebenrollen von Zweitbesetzungen getanzt worden. Ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, wenn ich sage, dass sie sich alle bis beinahe zum letzten Takt großartig geschlagen und uns eine hervorragende Vorstellung geliefert haben. Ich danke Ihnen.«
Der Vorhang ging hinunter, und das Publikum klatschte. Als er wieder hochgezogen wurde, verneigten sich die Tänzerinnen. Nur Karen und Jan Anders fehlten.
Das Ehepaar Duchwitz ging hinaus, und Harald folgte ihnen. Sie eilten auf den Bühneneingang zu. Ein Platzanweiser rührte sie zu Karens Garderobe.
Sie saß auf einem Stuhl, den rechten Arm in einer Schlinge. In ihrem cremeweißen Kostüm, das ihre Schultern frei ließ und den Ansatz ihrer Brüste über dem Mieder zeigte, sah sie umwerfend aus. Harald bekam kaum noch Luft und hätte nicht sagen können, ob Angst oder Verlangen dahinter steckte.
Vor Karen kniete der Arzt und bandagierte ihren rechten Fußknöchel.
»Mein armes Mädelchen!«, rief Frau Duchwitz, stürzte auf ihre Tochter zu, umarmte sie und drückte sie an sich. Genau das hätte Harald am liebsten auch getan.
»Ach, es ist gar nicht so schlimm«, sagte Karen, obwohl sie ganz blass war.
Karens Vater wandte sich direkt an den Arzt. »Wie geht‘s ihr?«
»Gut«, sagte der Mann. »Sie hat sich nur das Handgelenk und den Fuß verstaucht. Das tut ein paar Tage weh, und sie muss sich mindestens zwei Wochen lang schonen, aber das schafft sie schon.«
Harald hörte mit Erleichterung, dass die Verletzungen nicht weiter schlimm waren, doch sein erster Gedanke war: Wird sie fliegen können?
Der Arzt befestigte den Verband mit einer Sicherheitsnadel und stand auf. Er tätschelte Karens nackte Schulter. »Ich kümmere mich jetzt mal um Jan Anders. Er ist zwar nicht so schlimm gestürzt wie Sie, aber ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen seines Ellbogens.«
»Vielen Dank, Herr Doktor.«
Zu Haralds Verdruss nahm der Arzt seine Hand noch immer nicht von Karens Schulter. »Sie werden wieder so wunderbar tanzen wie eh und je, machen Sie sich keine Sorgen.« Erst jetzt ging er.
»Armer Jan«, sagte Karen. »Er kann gar nicht aufhören zu weinen.«
Der Kerl sollte erschossen werden, dachte Harald. »Das war doch allein seine Schuld – er hat dich fallen lassen!«, sagte er empört.
»Ich weiß. Deswegen regt er sich ja so auf.«
Herr Duchwitz sah Harald ungehalten an. »Was haben Sie hier eigentlich zu suchen?«
Wieder war es Karens Mutter, die ihm antwortete: »Harald wohnt in Kirstenslot.«
Karen wirkte schockiert. »Woher weißt du das, Mutter?«
»Du glaubst wohl, niemand hätte bemerkt, dass aus der Küche jeden Abend die Reste
Weitere Kostenlose Bücher