Mitternachtsfalken: Roman
worden, und die Wege wurden von besonders trüben Verdunklungsbirnen beleuchtet, um den Vorschriften Genüge zu leisten. Der Luftschutzbunker vor dem Pantomimen-Theater verstärkte den tristen Eindruck noch. Sogar die Musikkapellen schienen leiser zu spielen als sonst. Am unangenehmsten empfand Hermia jedoch die Tatsache, dass viel weniger Besucher als früher unterwegs waren. Wer immer sie verfolgen mochte, dies erleichterte ihm seine Aufgabe.
Sie blieb stehen und tat so, als sehe sie einem Jongleur zu. Flemming stand ganz in ihrer Nähe und ließ sich an einem Stand ein Glas Bier geben. Wie soll ich ihn bloß loswerden, dachte sie.
Sie mischte sich unter die Zuschauer, die um eine offene Bühne herumstanden, auf der eine Operette gespielt wurde. Sie drängte sich bis ganz nach vorn durch und auf der anderen Seite wieder hinaus, doch als sie sich unauffällig umsah, war ihr Flemming noch immer auf den Fersen. Wenn das so weitergeht, dachte sie, fällt ihm noch auf, dass ich ihn abschütteln will – und dann macht er dem Versteckspiel womöglich kurzer Hand ein Ende und nimmt mich fest.
Langsam, aber sicher bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie umrundete den See und kam zu einer offenen Tanzbühne, wo eine Bigband einen Foxtrott spielte. Mindestens hundert Paare schwangen mit Verve das Tanzbein, und noch viel mehr Menschen schauten zu. Hier endlich spürte Hermia etwas von der Atmosphäre des alten Tivoli. Sie erblickte einen gut aussehenden jungen Mann, der allein am Rand der Tanzfläche stand – und endlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie ging auf ihn zu und fragte ihn mit ihrem schönsten Lächeln: »Möchten Sie mit mir tanzen?«
»Aber gerne!« Er legte die Arme um sie. »Wollen Sie nicht Ihren Mantel ablegen. Oder wenigstens Ihren Rucksack?«, fragte er, aber Hermia schüttelte den Kopf.
Hermia war keine gute Tänzerin, doch mit einem kompetenten Partner kam sie einigermaßen zurecht. Arne war großartig gewesen, elegant und meisterhaft. Der Mann, der sie jetzt hier führte, tanzte selbstsicher und wusste, was er wollte.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
Beinahe hätte sie ihren richtigen Namen verraten. Erst in letzter Sekunde fing sie sich und sagte: »Agnes.«
»Ich bin Johan.«
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Johan. Sie tanzen wundervoll.« Sie sah, dass Flemming auf dem Weg stand und die Tanzenden beobachtete.
Zu ihrem Pech war die Musik plötzlich zu Ende. Das Publikum applaudierte der Band. Mehrere Paare verließen die Tanzfläche, neue kamen hinzu. »Wollen wir noch mal?«, fragte Hermia.
»Es wäre mir ein Vergnügen.«
Sie beschloss, ihn ins Vertrauen zu ziehen. »Hören Sie, Johan, da ist ein grässlicher Kerl, der mich schon die ganze Zeit über verfolgt. Ich möchte ihn loswerden. Wären Sie so nett und tanzen mit mir quer über die Fläche bis zum anderen Ende?«
»Wie aufregend!« Johan musterte die Zuschauer, die die Tanzfläche umstanden. »Wer ist es? Der Dicke mit dem roten Gesicht?«
»Nein. Der in dem hellbraunen Anzug.«
»Ach ja, der. Sieht doch ganz gut aus.«
Das Orchester stimmte eine Polka an. »O je!«, entfuhr es Hermia. Sie fand diesen Tanz sehr schwierig, doch blieb ihr keine andere Wahl.
Johan war erfahren genug, um es ihr leichter zu machen. Er konnte sich sogar noch unterhalten dabei. »Der Mann, der Sie belästigt – ist das ein Fremder oder kennen Sie ihn?«
»Ich habe ihn schon mal gesehen. Bringen Sie mich zur anderen Seite, wo das Orchester sitzt – ja, genau dahin.«
»Ist er Ihr Freund?«
»Nein. Ich lasse Sie gleich allein, Johan. Wenn er mir hinterherrennt – könnten Sie ihm ein Bein stellen oder ihn sonst wie aufhalten?«
»Wenn Sie wünschen.«
»Vielen Dank.«
»Ich glaube, er ist Ihr Mann.«
»Ganz bestimmt nicht.« Sie befanden sich jetzt in Höhe des Orchesters.
Johan steuerte Hermia an den Rand der Tanzfläche. »Vielleicht sind Sie ja eine Spionin – und der Mann ist ein Polizist, der Sie dabei erwischen will, wie Sie geheime Pläne vor den Nazis in Sicherheit bringen.«
»So was Ähnliches«, erwiderte Hermia fröhlich und entwand sich ihm.
Schnell verließ sie die Tanzfläche, lief um den Musikpavillon herum und verschwand zwischen den Bäumen. Sie rannte über den Rasen, bis sie auf einen anderen Weg stieß, der zu einem Nebenausgang führte. Dort drehte sie sich um: Peter Flemming war nirgends zu sehen.
Sie ließ den Park hinter sich, eilte zur Haltestelle der Vorortbahn gegenüber dem Hauptbahnhof und
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