Mitternachtsfalken: Roman
plötzlich völlig gleichgültig.
Die Musik ging in eine andere Tonart über, und der Tänzer bewegte sich. Harald sah ihn über die Bühne springen und hatte den Eindruck, dass er nicht ganz sicher war. Ihm fiel wieder ein, dass Jan Anders ebenfalls nur Ersatz war. Doch während Karen voller Selbstvertrauen tanzte, sodass jede ihrer Bewegungen völlig mühelos aus- 430 sah, wirkte der junge Mann verkrampft. Ein Hauch von Gefahr lag über seinem Tanz.
Die Szene schloss mit dem langsamen Eröffnungsmotiv. Harald erkannte jetzt, dass es keine Handlung gab und dass die Tänze ebenso abstrakt waren wie die Musik. Wieder sah er auf die Uhr. Es waren erst fünf Minuten vergangen.
Das Ensemble zerstreute sich und bildete neue Figuren, die den Rahmen für eine Serie von Solotänzen boten. Der Dreivierteltakt beherrschte die Musik und klang sehr melodisch. Harald, der die Dissonanzen der Jazzmusik liebte, war sie fast ein wenig zu lieblich.
Obwohl ihn das Ballett faszinierte, schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Er musste an die Hornet Moth denken, an Hansen, der gefesselt im Kofferraum lag, und an die Jespersen. Sollte Peter Flemming womöglich den einzigen pünktlichen Zug in ganz Dänemark erwischt haben, fragte er sich. Sind er und die Jespersen vielleicht schon in Kirstenslot, haben Hansen gefunden und liegen auf der Lauer? Wie lässt sich das feststellen? Am besten schleiche ich durch den Wald zum Kloster – vielleicht entdecke ich da einen Hinterhalt rechtzeitig.
Karen begann mit einem neuen Solo. Harald gestand sich ein, dass er viel aufgeregter war, wenn er statt an die Polizei an sie dachte. Dabei war seine Sorge völlig überflüssig: Entspannt und selbstbeherrscht wirbelte, trippelte und sprang sie so glücklich über die Bühne, als folge sie ihren spontanen Eingebungen. Harald kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, bewunderte die Kraft, die in ihren Schritten lag, wenn sie quer über die Bühne rannte oder sprang und dann mitten in der Bewegung in einer vollendet anmutigen Pose erstarrte, als besäße ihr Körper keine Trägheit. Sie schien sich über die Gesetze der Physik einfach hinwegzusetzen.
Haralds Nervosität wuchs, als Karen und Jan Anders gemeinsam zu tanzen begannen. Das nennt man einen pas de deux, dachte er, ohne dass er hätte sagen können, woher er das wusste. Anders hob Karen immer wieder dramatisch in die Höhe, und jedes Mal bauschte sich ihr Rock, sodass man ihre fabelhaften Beine sah. In manchen Figuren trug Anders sie nur mit einer Hand, sei es in einer bestimmten Pose oder mitten in einer Bewegung. Harald machte sich Sorgen um ihr Wohlbefinden, doch Karen kam immer wieder mit Leichtigkeit und Grazie auf die Füße. Dennoch war er erleichtert, als der pas de deux endete und die Ensembletänzerinnen wieder die Szene beherrschten. Erneut sah er auf die Uhr. Allmählich mussten sie zum Ende kommen, Gott sei Dank.
Im letzten Tanz führte Anders mehrere spektakuläre Sprünge vor und wiederholte einige seiner Hebefiguren mit Karen.
Das Unglück geschah just in dem Augenblick, als die Musik zu einem fulminanten Crescendo ansetzte.
Wieder hatte Jan Anders Karen in die Höhe gehoben und hielt sie dort mit einer Hand in ihrem Kreuz. Karen streckte sich dort aus, senkte die Beine mit ausgestreckten Zehen und reckte gleichzeitig die Arme weit über den Kopf nach hinten, sodass ein perfekter Bogen entstand. In dieser Pose verharrten die beiden einen Moment lang – und dann glitt Anders aus.
Sein linker Fuß schoss nach vorn, sodass er ins Taumeln geriet und schließlich flach auf den Rücken fiel. Karen stürzte neben ihm auf die Bühne und landete auf ihrem rechten Arm und Bein.
Das Publikum hielt entsetzt die Luft an. Die anderen Tänzerinnen huschten auf die beiden Gestürzten zu. Das Orchester spielte noch ein paar Takte, dann erstarb die Musik. Ein Mann in schwarzen Hosen und schwarzem Pullover trat aus den Kulissen.
Anders stand wieder auf. Er hielt seinen Ellbogen, und Harald sah, dass er weinte. Karen versuchte aufzustehen, fiel aber wieder zurück. Der Mann in Schwarz gab einen Wink, und der Vorhang senkte sich. Ein aufgeregtes Raunen erfüllte den Zuschauersaal.
Harald merkte erst jetzt, dass er aufgesprungen war.
Er sah, wie sich zwei Reihen vor ihm Herr und Frau Duchwitz erhoben und sich ziemlich rücksichtslos, wenngleich unter ständigen Entschuldigungen bei den Leuten, an denen sie vorübermussten, zum Ausgang drängten. Sie wollten offensichtlich hinter die Bühne
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