Mitternachtsfalken: Roman
Ballettschülern besetzt werden, dachte Harald. Das ist sicher eine heikle Situation für die ganze Truppe.
Er erschrak. Zwei Reihen vor ihm nahmen Herr und Frau Duchwitz ihre Plätze ein. Darauf, dass die beiden sich den großen Augenblick ihrer Tochter nicht entgehen lassen würden, hätte ich eigentlich von alleine kommen können, dachte er. Hoffentlich sehen sie mich nicht. Aber im Grunde spielt das jetzt auch keine Rolle mehr. Mein
Unterschlupf ist polizeibekannt – da kann ich mir doch die ganze Geheimniskrämerei sparen.
Dass er das amerikanische Sportjackett von Herrn Duchwitz trug, war da schon ärgerlicher. Laut Etikett in der Innentasche war es fünfzehn Jahre alt. Allerdings hatte Karen ihren Vater nicht um Erlaubnis gefragt. Würde Papa Duchwitz es wieder erkennen? Es ist doch Blödsinn, dachte Harald, darauf auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Eine Anklage wegen Jackettdiebstahls ist nun wirklich das Harmloseste, was mir droht.
Er fasste nach der Filmrolle in seiner Hosentasche und fragte sich, ob es für ihn und Karen überhaupt noch eine realistische Chance gab, mit der Hornet Moth zu entkommen. Das hängt wohl hauptsächlich von dem Zug ab, in dem Peter Flemming gerade sitzt, dachte Harald. Kommt der frühzeitig, dann sind er und die Jespersen vor uns in Kirstenslot. Kann sein, dass wir ihnen trotzdem entwischen – nur: Wie sollen wir an das Flugzeug herankommen, wenn es unter polizeilicher Bewachung steht? Andererseits ist Hansen zurzeit außer Gefecht, das heißt, momentan wird die Maschine nicht bewacht. Angenommen, Peters Zug trifft erst in den frühen Morgenstunden ein. In dem Fall hätten wir vielleicht noch eine Chance. Ein Vorteil für uns liegt darin, dass die Jespersen nicht weiß, dass ich sie gesehen habe. Sie denkt, sie hat jede Menge Zeit. Wann fängt nur diese verdammte Vorstellung endlich an?
Nachdem sämtliche Zuschauer ihre Plätze eingenommen hatten, betrat der König seine Loge. Das Publikum erhob sich von den Sitzen. Es war das erste Mal, dass er Harald Christian X. dessen Antlitz ihm von vielen Fotografien her vertraut war, in Fleisch und Blut sah. Der hängende Schnurrbart verlieh seiner Miene einen tiefernsten Ausdruck, der dem Monarchen eines besetzten Landes durchaus zu Gesicht stand. Der König trug einen Abendanzug und hielt sich sehr gerade. Da er auf allen Bildern mit irgendeiner Kopfbedeckung zu sehen war, wurde Harald zum ersten Mal bewusst, dass sich das königliche Haupthaar lichtete.
Nachdem der König Platz genommen hatte, setzte sich auch das Publikum wieder. Langsam verloschen die Lichter.
Na endlich, dachte Harald.
Der Vorhang hob sich. Auf der Bühne standen zwanzig oder mehr Frauen und bildeten bewegungslos einen Kreis. In ihrer Mitte, gleichsam in der Zwölf-Uhr-Stellung, stand ein einzelner Mann. Ein blassblaues Licht, das wie Mondschein aussah und die Ränder der ansonsten leeren Bühne in dunkle Schatten tauchte, lag über den ausnahmslos weiß gekleideten Tänzerinnen. Es war ein dramatisches Eröffnungsbild, das Harald trotz seiner Sorgen faszinierte.
Das Orchester spielte eine langsame, absteigende Melodie, und die Tänzerinnen begannen sich zu bewegen. Der Kreis weitete sich und ließ vier Personen, den Mann und drei Frauen, bewegungslos in der Mitte stehen. Eine der Frauen lag auf dem Boden, als schliefe sie. Ein langsamer Walzer setzte ein.
Wo war Karen? Die Mädchen trugen alle die gleichen Kostüme, eng anliegende Leibchen, die die Schultern frei ließen, und weite Rok- ke, die sich beim Tanzen bauschten. Das wirkte zwar sehr erotisch, ließ sie in der stimmungsvollen Beleuchtung aber alle gleich aussehen. Harald hätte nicht sagen können, welche von ihnen Karen war.
Dann aber bewegte sich die Schlafende, und er erkannte Karens rotes Haar. Sie glitt zur Mitte der Bühne. Harald saß wie auf Kohlen vor Angst und Aufregung – hoffentlich machte sie keinen Fehler, hoffentlich verpatzte sie nicht ihren großen Auftritt. Doch Karen wirkte sicher und beherrscht. Sie begann, auf den Zehenspitzen zu tanzen. Es sah aus, als müsse es höllisch wehtun, und Harald zuckte unwillkürlich zusammen. Karen jedoch schien zu schweben. Die anderen Tänzerinnen bildeten Muster um sie herum, Linien und Kreise, und das Publikum saß mucksmäuschenstill, gebannt von Karen und ihrer Kunst. Harald war ungemein stolz auf sie und bereute es nicht mehr, dass er sich für den Besuch der Vorstellung entschieden hatte. Alle eventuellen Folgen waren ihm
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