Mitternachtsfalken: Roman
zurückgelassen und ihm befohlen, mich zu erschießen, falls ich versuchen sollte, das Flugzeug zu starten.«
»Dich erschießen! Was willst du jetzt machen?«
»Ich hab Hansen niedergeschlagen und gefesselt«, erklärte Harald, nicht ohne einen gewissen Stolz in seiner Stimme.
»Oje! Und wo ist er jetzt?«
»Im Kofferraum vom Wagen deines Vaters.«
Das fand sie lustig. »Du altes Schlitzohr!«
»Uns bleibt nur noch eine einzige Chance – dachte ich. Peter sitzt in einem Zug, und die Jespersen weiß nicht, wann der ankommt. Wären wir zwei heute Nacht noch vor den beiden in Kirstenslot, so hätten wir immer noch abfliegen können. Aber jetzt, wo du gar nicht fliegen kannst.«
»Das könnten wir immer noch.«
»Wie denn?«
»Du kannst den Piloten spielen.«
»Das kann ich nicht – ich hab doch nur eine einzige Flugstunde gehabt!«
»Ich sag dir genau, was du tun musst. Poul hielt dich für eine Naturbegabung. Und zwischendurch kann ich den Steuerknüppel auch mit der linken Hand bedienen.«
»Du meinst wirklich, das geht?«
»Aber sicher!«
»Na schön.« Harald nickte feierlich. »Dann machen wir das. Und nun bete mal, dass Peters Zug möglichst große Verspätung hat.«
H ermia hatte Peter Flemming auf der Fähre nach Seeland entdeckt.
Er lehnte an der Reling und sah aufs Meer hinaus, und Hermia erinnerte sich, dass sie einen Mann mit kupferrotem Schnurrbart und elegantem Tweed-Anzug auf dem Bahnsteig in Morlunde gesehen hatte. Bestimmt fuhren einige Leute aus Morlunde nach Kopenhagen, ebenso wie sie selbst, doch der Mann kam ihr irgendwie bekannt vor. Der Hut und die Brille führten sie eine Zeit lang auf eine falsche Fährte, doch am Ende förderte ihr Gedächtnis den richtigen Namen ans Licht: Peter Flemming.
Damals, in den glücklichen Tagen mit Arne, hatte sie ihn einmal getroffen. Wenn sie sich richtig erinnerte, waren die beiden Männer in ihrer Kindheit enge Freunde gewesen, doch dann hatten sich ihre Familien zerstritten, und aus der Freundschaft war eine bittere Feindschaft geworden.
Und inzwischen war Peter Polizist.
Nachdem ihr dies alles wieder eingefallen war, stand für Hermia Mount fest, dass er sie verfolgte. Ein Angstschauer durchfuhr sie wie
ein eisiger Windstoß.
Die Zeit lief ihr davon. Bis zum Vollmond waren es nur noch drei Tage, und sie hatte Harald Olufsen noch immer nicht gefunden. Selbst wenn sie den Film noch an diesem Abend bekommen sollte, war es völlig unklar, ob sie ihn noch rechtzeitig nach England würde bringen können. Aufgeben kam jedoch nicht in Frage – das war sie dem Andenken Arnes schuldig, aber auch Digby und vor allem den Piloten, die den Nazis Einhalt gebieten wollten und dabei ihr Leben riskierten.
Aber warum hat mich Peter Flemming nicht längst verhaftet, fragte sie sich. Ich bin für ihn doch eine britische Spionin. Was führt er im Schilde?
Vielleicht tut er das Gleiche wie ich und sucht Harald.
Als die Fähre anlegte, folgte Flemming Hermia in den Zug nach Kopenhagen. Kaum war der angefahren, machte sie sich auf den Weg, um herauszufinden, wo Flemming sich befand, und entdeckte ihn in einem Erster-Klasse-Abteil.
Voller Sorge kehrte sie auf ihren Sitz zurück. Die neue Entwicklung schmeckte ihr gar nicht. Ich darf diesen Peter Flemming keinesfalls zu Harald fuhren, dachte sie. Ich muss ihn abschütteln.
Zeit, darüber nachzudenken, wie sie das machen wollte, hatte sie genug. Die Verspätung des Zuges wuchs und wuchs. Erst gegen zehn Uhr abends erreichte er Kopenhagen. Hermias Plan stand inzwischen fest: Sie würde ins Tivoli gehen und Flemming dort »verlieren«.
Beim Aussteigen warf sie einen Blick auf den hinteren Teil des Zuges und sah Peter Flemming dort aus dem Erste-Klasse-Waggon aussteigen.
Sie ging in normalem Tempo die Treppe hinauf, passierte die Sperre und verließ das Bahnhofsgebäude. Es dämmerte. Das Tivoli lag in unmittelbarer Nähe. Hermia ging zum Haupteingang und kaufte eine Eintrittskarte. »Wir schließen aber um Mitternacht«, sagte der Kartenverkäufer warnend.
Einmal war sie mit Arne hier gewesen, im Sommer 1939. An jenem Abend hatte ein Festival stattgefunden, und zum Feuerwerk drängten fünfzigtausend Leute in den Park. Jetzt war das Tivoli nur noch ein trauriger Abklatsch seiner selbst, wie eine Schwarzweißfotografie von
einer Schale mit bunten Früchten.
Zwar schlängelten sich die Pfade immer noch anmutig zwischen den Blumenbeeten hindurch, doch die bunten Lichter in den Bäumen waren ausgeknipst
Weitere Kostenlose Bücher