Mitternachtsfalken: Roman
deutsche Wehrmacht auf solche Tricks hereinfiel, hätte sie wohl kaum halb Europa erobert.
Leo schüttelte den Kopf. »Ein Wachposten muss über außergewöhnliche Ereignisse, die für die Dauer seines Wachdienstes vorgesehen sind, im Voraus unterrichtet werden«, sagte er, als zitiere er eine auswendig gelernte Vorschrift.
»Ohne Rücksprache mit Hauptmann Kleiss hätte uns Herr Duchwitz diesen Auftrag bestimmt nicht erteilt.« Harald stemmte sich gegen das Leitwerk und schob.
Leo, der sah, wie schwer es Harald fiel, den Schwanz des Flugzeugs zu bewegen, packte spontan mit an. Gemeinsam schwenkten sie den Schwanz einen Viertelkreis weit herum, bis die Nase die Zufahrt entlang zum Schloss zeigte.
»Ich glaube, ich frage doch besser beim Hauptmann nach«, sagte Leo.
»Bist du dir sicher, dass es ihm nichts ausmacht, mitten in der Nacht geweckt zu werden?«
Leos Zweifel waren noch nicht beseitigt. »Vielleicht schläft er ja noch nicht.«
Harald wusste, dass die Offiziere im Schloss untergebracht waren. Wie kann ich Leo zurückhalten und selber schneller vorankommen, dachte er und fragte den jungen Mann: »Schön, aber wenn du ohnehin zum Schloss gehst, dann könntest du mir vielleicht helfen, die Kiste vorzurollen.«
»Ja, mach ich.«
Leo hängte sich sein Gewehr über die Schulter und stemmte sich gegen die Metallstrebe zwischen oberer und unterer Tragfläche. Zu zweit kamen sie erheblich schneller voran.
Hermia hatte den letzten Zug erwischt, der abends von der Station Vesterport abging. Als er in Kirstenslot einfuhr, war es nach Mitternacht.
Wie sie sich verhalten würde, wenn sie erst einmal am Schloss angelangt war, wusste sie noch nicht. Einfach an die Tür zu hämmern und das ganze Haus aufzuwecken kam natürlich nicht in Frage; sie wollte schließlich unauffällig bleiben.
Womöglich muss ich bis zum Morgen warten, bevor ich mich nach Harald erkundigen kann, dachte sie. Das hieße zwar, dass ich den Rest der Nacht im Freien verbringen muss, aber das bringt mich auch nicht um. Es kann natürlich auch sein, dass im Schloss noch Licht brennt und ich jemanden auftreibe, mit dem ich ein diskretes Wörtchen wechseln kann, einen Diener oder so jemanden.
Die Zeit drängte, und sie wollte keine mehr verlieren.
In Kirstenslot stieg außer ihr nur noch eine andere Person aus dem Zug: die Frau mit der himmelblauen Baskenmütze.
Einen Moment lang empfand Hermia nichts als Angst. Habe ich einen Fehler gemacht, dachte sie. Hat diese Frau womöglich Peter Flemming abgelöst und beschattet mich jetzt an seiner statt?
Sie musste es genau wissen.
Vor dem verdunkelten Bahnhof blieb sie stehen, schnallte ihren Rucksack ab und tat so, als suche sie etwas darin. Wenn die Frau ihr auf den Fersen war, musste sie sich nun ebenfalls einen Vorwand einfallen lassen, um stehen bleiben zu können.
Die Frau kam aus dem Bahnhof und ging ohne Zögern an ihr vorbei.
Hermia kramte weiter in ihrem Rucksack. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie die Frau raschen Schritts auf einen in der Nähe parkenden schwarzen Buick zuging. Am Steuer saß eine Gestalt und rauchte. Hermia konnte das Gesicht nicht erkennen, nur das Glühen der Zigarette. Die Frau stieg ein. Der Motor sprang an, und der Wagen fuhr davon.
Hermia atmete auf. Wahrscheinlich hatte die Dame den Abend in der Stadt verbracht und wurde nun von ihrem Ehemann am Bahnhof abgeholt. Falscher Alarm, dachte Hermia erleichtert.
Sie machte sich auf den Weg zum Schloss.
Harald und Leo schoben die Hornet Moth den Fahrweg entlang, vorbei an dem Tankwagen, aus dem Harald das Benzin gestohlen hatte, bis auf die große Rasenfläche vor dem Schlosseingang. Dort drehten sie das Flugzeug in den Wind, und Leo lief ins Schloss, um Hauptmann Kleiss zu wecken.
Harald blieben allenfalls ein, zwei Minuten Zeit.
Er nahm die Taschenlampe aus der Hosentasche, schaltete sie ein und hielt sie mit dem Mund fest. Er drehte die Flügelschrauben auf der linken Seite der Flugzeugnase auf und öffnete die Motorhaube.
»Sprit an?«, rief er.
»Sprit an«, rief Karen zurück.
Harald zog an dem Ring des Vergasers und bewegte die Hebel an den beiden Benzinpumpen, um den Vergaser mit Benzin zu füllen. Er schloss die Motorhaube und sicherte sie wieder. Erneut nahm er die Taschenlampe aus dem Mund und rief: »Gashebel gesetzt und Magnete an?«
»Gashebel gesetzt, Magnete an.«
Er stellte sich vor das Flugzeug und drehte den Propeller.
Wie er es bei Karen gesehen hatte, drehte er ihn ein zweites,
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