Mitternachtsfalken: Roman
die Kurve, doch Harald erkannte, dass sie nicht eng genug war. Sie drohten gegen den Kirchturm zu krachen.
»Linkes Ruder!«, kreischte Karen.
Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er ja ebenfalls steuern konnte. Er rammte den linken Fuß mit aller Kraft auf das Pedal und spürte sofort, dass sich die Maschine steiler in die Kurve legte. Trotzdem war er sicher, dass es nicht mehr reichte und sie mit der rechten Tragfläche die Backsteinmauer rammen würden. Die Hornet Moth drehte sich mit haarsträubender Langsamkeit, und Harald wappnete sich schon gegen den Aufprall.
Die Flügelspitze verfehlte den Glockenturm nur um wenige Zentimeter.
»Herr im Himmel!«, stöhnte Harald.
Der böige Wind ließ das Flugzeug bocken wie ein Pony. Harald hatte das Gefühl, die Maschine könne jeden Moment vom Himmel fallen. Doch Karen blieb in der Schräglage und setzte den Steigflug fort. Harald biss die Zähne zusammen. Das Flugzeug machte eine Kehre von 180 Grad. Als sie wieder über das Schloss flogen, richtete es sich wieder aus. Je höher sie stiegen, desto ruhiger lag die Maschine in der Luft, und Harald erinnerte sich daran, dass Poul Kirke gesagt hatte, in Bodennähe seien Turbulenzen häufiger.
Er bückte nach unten. Noch immer loderten Flammen aus dem
Tankwagen. In ihrem Schein konnte Harald sehen, wie die Soldaten in Schlafanzügen aus dem Kloster kamen. Hauptmann Kleiss fuchtelte mit den Armen und brüllte Befehle. Frau Jespersen rührte sich nicht, anscheinend war sie bewusstlos. Hermia Mount war nirgendwo zu sehen. Im Schlossportal standen mehrere Bedienstete und schauten zum Flugzeug hinauf.
Karen deutete auf eine Skala auf dem Instrumentenbrett. »Behalt das da im Auge«, befahl sie. »Das ist der Wendezeiger. Sorge mit dem Ruder dafür, dass die Nadel aufrecht in der Mitte bleibt.«
Das helle Mondlicht fiel durch das durchsichtige Kabinendach, reichte jedoch zum Ablesen der Instrumente nicht ganz aus. Harald beleuchtete die Skala mit der Taschenlampe.
Sie stiegen noch immer, und das Schloss hinter ihnen wurde kleiner und kleiner. Karen sah sich ständig um, schaute nach rechts, nach links und geradeaus, obwohl draußen nicht mehr als die vom Mondlicht beschienene Landschaft zu erkennen war.
»Schnall dich an«, sagte sie, und Harald sah, dass ihre Gurte festgemacht waren. »Dann haust du dir den Kopf nicht am Dach an, wenn der Flug ein wenig holperig wird.«
Harald befestigte seinen Gurt. Das Unglaubliche war geschehen: Sie waren davongekommen. Er wehrte sich nicht gegen ein gewisses Triumphgefühl und sagte: »Ich dachte schon, es wäre aus mit mir.«
»Ich auch – und zwar gleich mehrmals!«
»Deine Eltern werden vor Sorge außer sich sein.«
»Ich hab ein Briefchen für sie zurückgelassen.«
»Das ist immerhin etwas, ich hab gar nichts getan.« Er hatte nicht einmal daran gedacht.
»Sehen wir einfach zu, dass wir am Leben bleiben, dann sind sie glücklich.«
Er berührte ihre Wange. »Wie fühlst du dich?«
»Ein bisschen fiebrig.«
»Ja, du hast Temperatur. Du solltest etwas Wasser trinken.«
»Nein, danke. Wir haben einen Sechs-Stunden-Flug vor uns – und keine Toilette. Ich habe keine Lust, hier vor dir auf eine Zeitung zu pinkeln. Das könnte das Ende einer wunderbaren Freundschaft sein.«
»Ich mach einfach die Augen zu.«
»Und fliegst die Maschine blind? Das kannst du vergessen. Ich stehe das schon durch.«
Karen nahm es mit Humor, doch Harald machte sich Sorgen um sie. Er selbst fühlte sich nach all dem, was sie durchgemacht hatten, fix und fertig. Bei Karen kamen der verstauchte Fuß und das verstauchte Handgelenk hinzu. Hoffentlich wird sie nicht ohnmächtig, dachte er.
»Schau mal auf den Kompass«, sagte sie. »Was haben wir für einen Kurs?«
Er hatte sich, als das Flugzeug noch in der Kirche stand, mit dem Kompass befasst und konnte ihn lesen. »Zweihundertdreißig Grad.«
Karen ging in eine Rechtskurve. »Dann muss der Kurs nach England ungefähr zwei-fünfzig sein. Sag mir Bescheid, wenn wir ihn erreicht haben.«
Er strahlte den Kompass mit der Taschenlampe an. Als er den richtigen Kurs anzeigte, sagte er: »Jetzt.«
»Zeit?«
» Zwölf-vierzig.«
»Wir sollten das eigentlich alles aufschreiben, aber wir haben keinen Stift mitgenommen.«
»Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas davon jemals wieder vergessen werde.«
»Ich möchte über diese Wolkenfetzen kommen«, sagte sie. »Wie hoch sind wir?«
Harald richtete die Taschenlampe auf den Höhenmesser.
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