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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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genauen Zeitpunkt, zu dem die Schule für ihn interessant geworden war, hätte er gar nicht mehr nennen können. Als kleiner Junge hatte er in jeder Unterrichtsstunde eine ärgerliche Ablenkung von wichtigeren Dingen gesehen – dem Aufstauen von Bächen zum Beispiel oder dem Bau von Baumhäusern. Doch dann, im Alter von ungefähr vierzehn, und ohne dass es ihm selbst sonderlich aufgefallen wäre, fand er plötzlich Chemie und Physik interessanter und aufregender als das Spielen im Wald. Eine absolute Sensation für ihn war die Entdeckung, dass der Entwickler der Quantentheorie, Niels Bohr, ein dänischer Wissenschaftler war. Bohrs Interpretation des Periodensystems der Elemente, die chemische Reaktionen mit der Atomstruktur der beteiligten Elemente erklärte, kam ihm wie eine göttliche Offenbarung vor, eine grundlegende und zutiefst befriedigende Erklärung für die Zusammensetzung des Universums. Harald verehrte Bohr genauso, wie die anderen Jungen Kaj Hansen anhimmelten – den »kleinen Kaj«, der bei B93 Kopenhagen Innenstürmer spielte und ein großer Fußballheld war. Harald hatte sich bereits um einen Studienplatz an der Kopenhagener Universität beworben, dessen Institut für Theoretische Physik von Bohr geleitet wurde.
    Doch eine gute Ausbildung ist teuer. Glücklicherweise hatte Haralds Großvater, als er sah, dass sein eigener Sohn einen Beruf erwählte, der ihn zeitlebens zum armen Schlucker stempeln würde, für seine Enkelsöhne vorgesorgt. Die Internatskosten für Arne und Harald wurden aus seinem Erbe bestritten, und auch Haralds Studium sollte noch aus diesen Mitteln finanziert werden.
    Er betrat die Turnhalle. Die jüngeren Schüler hatten Bänke in wohl geordneten Reihen aufgestellt. Harald setzte sich ganz nach hinten, neben Josef Duchwitz. Josef war sehr klein, und da sein Nachname so ähnlich klang wie das englische Wort »duck« für »Ente«, hatte man ihm den Spitznamen Anaticula verpasst, das lateinische Wort für »Entenküken«, woraus im Laufe der Jahre »Tik« geworden war. Die beiden Jungen hätten der Herkunft nach nicht unterschiedlicher sein können – Tik war der Spross einer sehr wohlhabenden jüdischen Familie – und waren dennoch ihre gesamte Schulzeit hindurch eng befreundet.
    Kurze Zeit später nahm Mads Kirke neben Harald Platz. Mads war sein Klassenkamerad und stammte aus einer angesehenen Offiziersfamilie: Sein Großvater war General, sein bereits verstorbener Vater in den Dreißigerjahren Verteidigungsminister gewesen. Und Poul, sein Vetter, war Militärpilot und unterrichtete an der gleichen Flugschule wie Arne.
    Den drei Freunden gemeinsam war ihr Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern. Sie waren normalerweise immer zusammen – und boten, weil sie äußerlich so verschieden waren, einen geradezu komischen Anblick: Harald war groß und blond, Tik klein und dunkel und Mads ein sommersprossiger Rotschopf. Ein witziger Englischlehrer hatte sie unter Anspielung auf eine bekannte Filmkomödie mal als »Die drei Verrückten« bezeichnet – ein Spitzname, der an ihnen hängen geblieben war.
    Direktor Heis betrat die Turnhalle in Begleitung des Gastes, und die Schüler erhoben sich höflich von ihren Sitzen. Heis war ein hoch gewachsener, dünner Mann mit einer Brille, die weit vorn auf einer schnabelartig gekrümmten Nase saß. Er hatte zehn Jahre in der Armee gedient, doch war leicht zu erkennen, warum er sich danach auf den Lehrerberuf verlegt hatte: Der sanftmütige Mann erweckte den Eindruck, als wolle er sich ständig dafür entschuldigen, dass er eine Autoritätsperson war. Er war eher beliebt als gefürchtet. Die Jungen gehorchten ihm, weil sie ihn nicht kränken wollten.
    Nachdem alle wieder saßen, stellte Heis ihnen den Parlamentsabgeordneten vor. Svend Agger war ein kleiner Mann, der so unscheinbar war, dass jeder unbefangene Betrachter ihn für den Lehrer und Heis für den angesehenen Gast gehalten hätte. Gleich zu Beginn seines Vortrags kam Agger auf die deutsche Besatzung zu sprechen.
    Harald erinnerte sich noch gut an den Tag vor mittlerweile vierzehn Monaten, als die Deutschen einmarschiert waren. Mitten in der Nacht war er von dröhnenden Flugzeugmotoren aufgeweckt worden. Die drei Verrückten waren aufs Dach ihrer Unterkunft gestiegen, um zu sehen, was da vor sich ging, doch nachdem ungefähr ein Dutzend
    Maschinen über sie hinweggeflogen war, geschah nichts mehr, und so hatten sie sich wieder hingelegt.
    Erst am nächsten Morgen hatte Harald

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