Mitternachtsfalken: Roman
Land über kurz oder lang von dem übermächtigen Nachbarn aus dem Süden überrollt werden würde und dass die einzige Chance für einen erfolgreichen Befreiungskampf in der Zusammenarbeit mit den Engländern lag. Poul hatte erklärt, dass die Gruppe, die sich »Die Mitternachtsfalken« nannte, nicht mit spektakulären Sabotageakten und Attentaten hervortreten, sondern sich auf die Weitergabe militärischer Informationen an den britischen Geheimdienst beschränken würde. Dank dieser für eine Frau bisher einmaligen Leistung war Hermia Mount zur Abteilungsleiterin für Dänemark befördert worden.
Der Inhalt des Päckchens zeigte, dass ihre Voraussicht wieder
Früchte getragen hatte. Es enthielt ein Bündel von Berichten über die Verteilung deutscher Stützpunkte auf der dänischen Insel Fünen und den Schiffsverkehr im Kattegat zwischen Schweden und Dänemark sowie eine Liste mit den Namen hochrangiger deutscher Offiziere in Kopenhagen. Die Berichte waren bereits von der Dechiffrierabteilung entschlüsselt worden.
Das Päckchen enthielt auch ein Exemplar einer Untergrundzeitschrift namens Virkligheden. Die illegale Presse war bislang das einzige Zeichen von Widerstand gegen die Nazis in Dänemark. Hermia überflog den Inhalt und las einen empörten Artikel, in dem behauptet wurde, die Butterknappheit im Lande sei darauf zurückzuführen, dass die gesamte Produktion nach Deutschland geschickt würde.
Über einen Mittelsmann in Schweden, der es dann dem MI6- Verbindungsoffizier an der Britischen Gesandtschaft in Stockholm übergeben hatte, war das Päckchen außer Landes geschmuggelt worden. Dass, wie aus einer beigefügten Notiz des Mittelsmannes hervorging, ein Exemplar der »Wirklichkeit« auch an die Nachrichtenagentur Reuters in Stockholm weitergegeben worden war, gefiel Hermia überhaupt nicht. Oberflächlich gesehen war es keine schlechte Idee, Nachrichten über die Zustände in einem besetzten Land an die Öffentlichkeit zu bringen – nur: Agenten sollten sich auf ihre Spionagetätigkeit beschränken und sie nicht mit anderen Dingen vermischen.
Durch unbedachte Widerstandsaktionen konnten die Behörden auf Agenten aufmerksam werden, die ansonsten womöglich jahrelang unentdeckt hätten arbeiten können.
Der Gedanke an die Mitternachtsfalken rief in Hermia schmerzhafte Erinnerungen an ihren Verlobten wach. Arne gehörte nicht zu dieser Gruppe. Er war dafür charakterlich einfach völlig ungeeignet. Sie liebte seine sorglose Lebensfreude. Bei ihm konnte sie sich entspannen
vor allem im Bett. Nur war ein unbekümmerter Bursche ohne Sinn für die harten Fakten des Lebens alles andere als geschaffen für die Geheimdienstarbeit. Manchmal, wenn sie ganz ehrlich war, gestand sie sich ein, dass es Arne wahrscheinlich auch an Mut fehlte; sie war sich da jedenfalls nicht sicher. Er war ein echter Draufgänger auf den Skipisten – sie hatte ihn in einem Wintersportort in den norwegischen Bergen kennen gelernt, wo er der Einzige war, der ihr auf Skiern noch was vormachen konnte. Doch dass er auch mit dem erheblich subtileren Terror verdeckter Geheimdienstoperationen zurechtkommen würde, wagte sie zu bezweifeln.
Sie hatte erwogen, ihm über die Mitternachtsfalken eine Botschaft zukommen zu lassen. Poul Kirke arbeitete in der Flugschule, und wenn Arne sich ebenfalls dort aufhielt, mussten sie sich im Grunde jeden Tag sehen. Die Benutzung des Spionagenetzes zu privaten Zwecken wäre ein grober beruflicher Schnitzer gewesen, doch davon hätte Hermia sich nicht abhalten lassen. Und da ihre Nachricht im Coderaum hätte verschlüsselt werden müssen, wäre man ihr mit Sicherheit auf die Schliche gekommen, aber selbst dies hätte sie nicht abgeschreckt. Das Einzige, was sie zurückhielt, war die Sorge um Arnes Sicherheit. Geheime Botschaften konnten dem Feind in die Hände fallen. Der MI6 verschlüsselte seine Nachrichten mit unkomplizierten Gedichtcodes, die noch aus Friedenszeiten stammten und leicht zu knacken waren. Wenn sein Name in einer Nachricht des britischen Geheimdiensts an dänische Spione auftauchte, geriet Arne in höchste Lebensgefahr, und Hermias Nachfrage konnte unter Umständen sein Todesurteil sein. Also saß sie in ihrer Stiefelkammer und unterließ alle Erkundungen, während die Angst um Arne sie innerlich zerfraß wie Säure.
Sie stellte eine Nachricht an den schwedischen Mittelsmann zusammen, in der sie ihm befahl, sich aus dem Propagandakrieg herauszuhalten und sich strikt auf seine
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