Mitternachtsfalken: Roman
mehr erfahren – genauer gesagt: beim Zähneputzen. Ein Lehrer war in den Gemeinschaftswaschraum gestürzt und hatte gerufen: »Die Deutschen sind gelandet!« Nach dem Frühstück, als sich die Jungen um acht Uhr zur Morgenandacht und zur Tagesbesprechung in der Turnhalle versammelt hatten, war die Nachricht vom Direktor offiziell bekannt gegeben worden. »Geht jetzt auf eure Zimmer«, hatte Heis gesagt, »und zerstört alles, woraus man schließen könnte, dass ihr gegen die Nazis seid oder mit den Engländern sympathisiert.« Harald hatte daraufhin sein Lieblingsplakat von der Wand genommen – das Bild einer Tiger Moth, eines Doppeldeckers mit den Abzeichen der Royal Air Force auf den Tragflächen.
Später am Tage – es war ein Dienstag – waren die älteren Jungen angewiesen worden, Sandsäcke zu füllen und damit die unschätzbar wertvollen alten Schnitzereien und Sarkophage in der Kirche abzudecken. Hinter dem Altar befand sich das Grabmal des Schulgründers. Sein steinernes Ebenbild auf der Grabplatte trug eine mittelalterliche Ritterrüstung mit einem auffallend großen Hosenlatz. Harald platzierte einen aufrecht stehenden Sandsack auf die Wölbung und sorgte damit für große Belustigung – außer bei Heis, der das überhaupt nicht komisch fand und Harald zur Strafe dazu verdonnerte, den ganzen Nachmittag über Gemälde abzuhängen und in die Krypta zu schleppen, wo sie vor einem Angriff in Sicherheit waren.
Doch alle Vorkehrungen hatten sich letztlich als unnötig erwiesen. Die Schule lag in einem Dorf am Rande von Kopenhagen, und bis sich der erste Deutsche dort blicken ließ, sollte noch ein Jahr vergehen. Wieder fielen Bomben noch wurde auch nur ein Gewehrschuss abgegeben.
Dänemark hatte innerhalb von vierundzwanzig Stunden kapituliert. »Die nachfolgenden Ereignisse haben die Klugheit dieser Entscheidung bewiesen«, verkündete Svend Agger mit aufreizender Selbstgefälligkeit und löste damit unter den Schülern verhaltenes Protestgemurmel aus: Sie rutschten unruhig auf ihren Bänken hin und her und flüsterten sich Kommentare über die Äußerungen des Redners zu.
»Unser König sitzt nach wie vor auf seinem Thron«, fuhr Agger fort. Neben Harald räusperte sich Mads ebenso geräuschvoll wie angewidert. Harald teilte seine Empörung. König Christian X. ritt fast jeden Tag aus und zeigte sich auf den Straßen von Kopenhagen seinem Volk, doch das schien nicht mehr als eine leere Geste zu sein.
»Die deutsche Besatzung war von Anfang an im Großen und Ganzen milde«, sagte der Redner. »Der Fall Dänemarks hat gezeigt, dass ein aus Kriegsgründen erforderlicher partieller Souveränitätsverlust nicht unbedingt zu Streit und ungebührlichen Härten führen muss. Was junge Menschen wie ihr daraus lernen könnt, ist, dass es Situationen gibt, in denen Unterordnung und Gehorsam ehrenhafter sein können als unbedachte Rebellion.« Der Abgeordnete setzte sich.
Heis klatschte höflich, und die Jungen taten es ihm nach, wenn auch ohne jede Begeisterung. Hätte der Direktor die Stimmung des Publikums besser eingeschätzt, so hätte er die Veranstaltung nun für beendet erklärt. Aber Heis lächelte nur und sagte: »Nun, Jungs, habt ihr noch irgendwelche Fragen an unseren Gast?«
Mads sprang sofort auf. »Herr Abgeordneter, Norwegen wurde am gleichen Tag überfallen wie Dänemark, aber die Norweger haben zwei Monate lang gegen die Invasoren gekämpft. Sehen wir daneben nicht wie Feiglinge aus?« Die Frage hatte es in sich, auch wenn sie in übertrieben höflichem Ton ausgesprochen worden war. Von den anderen Schülern kam zustimmendes Gemurmel.
»Diese Annahme ist naiv«, sagte Agger. Sein herablassender Ton ärgerte Harald.
Heis griff in die Diskussion ein: »Norwegen ist ein gebirgiges Land mit vielen Fjorden und daher nicht leicht zu erobern«, sagte er, darauf bedacht, seine militärische Erfahrung einfließen zu lassen. »Dänemark ist dagegen bretteben und verfügt über ein gut ausgebautes Straßennetz. Es hat gar keine Chance, sich gegen den Angriff einer großen, motorisierten Armee zu verteidigen.«
»Widerstand hätte nur zu überflüssigem Blutvergießen geführt«, ergänzte Agger, »und unter dem Strich wäre nichts anderes herausgekommen.«
»Außer dass wir jetzt imstande wären, mit erhobenem Haupt durch die Straßen zu gehen – anstatt duckmäuserisch den Kopf hängen zu lassen!«, erwiderte Mads scharf, und Harald dachte: Das muss er von seinen militärischen Verwandten gehört
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