Mitternachtsfalken: Roman
verliebt, dass er, um seine romantischen Gefühle zu demonstrieren, zum Gottesdienst einen gemusterten Schlips umlegte – mit dem Ergebnis, dass die Diakone nicht umhin konnten, ihm seiner unziemlichen Kleidung wegen eine Rüge zu erteilen.
Harald sah, wie seine Mutter sich über die Spüle beugte und einen Topf schrubbte. Er stellte sich vor, wie das matte, graue Haar einst ausgesehen hatte: pechschwarz und glänzend, dazu die haselnussbraunen, fröhlich funkelnden Augen; er dachte sich die Falten aus Mutters Gesicht fort und sah ihren müde gewordenen Körper jung und voller Energie. Sie muss unwiderstehlich attraktiv gewesen sein, dachte er, wie sonst hätte sie Vaters gnadenlos heiligmäßige Einstellung gegenüber der Fleischeslust ins Wanken bringen können? Es war wirklich schwer vorstellbar.
Er ging ins Haus, stellte seinen Koffer ab und gab seiner Mutter einen Begrüßungskuss.
»Dein Vater ist nicht zu Hause«, sagte sie.
»Wo ist er denn hin?«
»Ove Borking ist krank.« Ove war ein alter Fischer und ein treues Mitglied der Gemeinde.
Harald war erleichtert. Jede weitere Verschiebung der unvermeidlichen Konfrontation war eine Gnadenfrist.
Seine Mutter wirkte sehr ernst; offenbar hatte sie geweint. Ihr Anblick rührte sein Herz. »Es tut mir so Leid, dass ich euch Kummer bereitet habe, Mutter«, sagte er.
»Dein Vater ist tief verletzt«, sagte sie. »Axel Flemming hat eine Dringlichkeitssitzung der Diakone einberufen, auf der über diese Angelegenheit gesprochen werden soll.«
Harald nickte. Damit, dass sich die Flemmings diese Chance nicht entgehen lassen würden, hatte er schon gerechnet.
»Aber warum hast du das nur getan?«, fragte seine Mutter in klagendem Ton.
Er fand keine Antwort.
Sie machte ihm ein Schinkenbrot, damit er etwas in den Magen bekam. »Gibt es was Neues von Onkel Joachim?«, fragte Harald.
»Nein. Keiner unserer Briefe ist beantwortet worden.«
Wenn Harald seine Probleme mit denen seiner Kusine Monika verglich, kamen sie ihm harmlos vor. Sie war mittellos und verfemt und wusste nicht einmal, ob ihr Vater noch am Leben war. In Haralds Jugendjahren war der alljährliche Besuch der Familie Goldstein stets der Höhepunkt der Saison gewesen. Zwei Wochen lang herrschten Trubel und Lärm, und die klösterliche Atmosphäre im Pfarrhaus war wie weggeblasen. Der Pastor begegnete seiner Schwester und ihrer Familie mit einer nachsichtigen Zuneigung, wie er sie keinem anderen Menschen und schon gar nicht seinen eigenen Kindern gegenüber an den Tag legte. Gütig lächelte er über die vielen kleine Verstöße hinweg. Kauften sich Harald und Arne am Sonntag heimlich ein Eis, so wurden sie normalerweise dafür bestraft. Waren die Goldsteins da, entfielen die Sanktionen. Der Klang der deutschen Sprache bedeutete für Harald lustige kleine Streiche, Spaß und Gelächter. Inzwischen fragte er sich, ob die Goldsteins überhaupt jemals wieder lachen würden.
Er stellte das Radio an, um die Nachrichten zu hören. Sie brachten nichts Gutes. Der britische Vorstoß in Nordafrika war abgebrochen worden und hatte sich als katastrophaler Fehlschlag erwiesen. Die Hälfte der eingesetzten Panzer war verloren gegangen – entweder, weil sie mit technischen Problemen in der Wüste liegen geblieben waren oder aber, weil erfahrene deutsche Panzerabwehrschützen sie zur Strecke gebracht hatten. Die Stellung der Achsenmächte in Nordafrika war unerschüttert. Die Meldungen des dänischen Rundfunks und der BBC waren weitgehend identisch.
Gegen Mitternacht flog eine Bomberstaffel über Sande hinweg. Harald ging hinaus und erkannte, dass sie nach Osten flogen; also handelte es sich um britische Flugzeuge. Ihre Bomber waren das Einzige, was die Engländer derzeit noch aufbieten konnten.
Als er wieder ins Haus kam, sagte seine Mutter: »Es ist gut möglich, dass dein Vater die ganze Nacht ausbleibt. Am besten gehst du jetzt ins Bett.«
Lange lag er noch wach. Habe ich eigentlich Angst, fragte er sich. Für eine Tracht Prügel war er inzwischen zu groß. Der Vater in seinem Zorn war Furcht erregend – aber wie schlimm konnte eine verbale Abstrafung eigentlich sein? So leicht ließ Harald sich nicht einschüchtern – eher war das Gegenteil der Fall: Er neigte dazu, sich Autoritäten zu widersetzen und aus reinem Trotz dagegenzuhalten.
Die kurze Nacht war schon fast vorüber, und das graue Licht der Morgendämmerung umrahmte den Vorhang vor seinem Fenster wie ein rechteckiger Bilderrahmen. Endlich
Weitere Kostenlose Bücher