Mitternachtsfalken: Roman
wollte nicht nur seine Prüfungen bestehen – er wollte ein großer Physiker werden, der Nachfolger des weltberühmten Niels Bohr. Wie sollte das klappen, wenn er nicht genug Geld hatte, sich Bücher zu kaufen?
Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Und solange er nachdachte, musste er wohl oder übel hinnehmen, was sein Vater mit ihm vorhatte.
Er ging hinunter und aß ohne Appetit den Haferbrei, den seine Mutter gekocht hatte.
Sein Vater sattelte das Pferd. Es hieß Major und war ein breitrückiger irischer Wallach, der stark genug war, sie beide zu tragen. Der Pastor saß auf, und Harald setzte sich hinter ihn.
Sie ritten über die ganze Insel – eine Strecke, für die Major über eine Stunde brauchte. Am Hafen tränkten sie das Pferd an einem Trog neben dem Kai und warteten auf die Fähre. Noch immer hatte der Pastor seinem Sohn nicht gesagt, wohin die Reise ging.
Als das Schiff anlegte, legte der Fährmann beim Anblick des Pastors die Hand an die Mütze, und Olufsen sagte: »Ove Borking ist heute in den frühen Morgenstunden heimgerufen worden.«
»Damit war wohl zu rechnen«, sagte der Fährmann.
»Er war ein guter Mann.«
»Seine Seele ruhe in Frieden.«
»Amen.«
Sie setzten aufs Festland über und ritten die Steigung zum Stadtplatz von Morlunde empor. Die Laden hatten noch nicht geöffnet, doch als sie das Kurzwarengeschäft erreichten, stieg der Pastor vom Pferd und klopfte an die Tür. Otto Sejr, der Inhaber und ein Diakon der Kirche von Sande, öffnete; er war anscheinend auf den Besuch vorbereitet.
Sie traten ein, und Harald sah sich um. In Glasbehältern lagen bunte Wollknäuel. Die Regale waren mit Stoffbahnen bestückt – Wolle, bedruckte Baumwolle, ein paar Seidenstoffe. Unter den Regalen befanden sich Schubladenschränke. Die einzelnen Fächer waren sorgfältig beschriftet: »Bänder – weiß«, »Bänder – gemustert«, »Gummiband«, »Hemdknopfe«, »Hornknöpfe«, »Nadeln«, »Stricknadeln«.
Ein staubiger Geruch nach Mottenkugeln und Lavendel wie im Kleiderschrank einer alten Dame lag in der Luft und Heß eine Erinnerung aus Haralds Kindertagen plötzlich lebendig werden: Hier war er einmal als kleiner Junge gewesen, als seine Mutter schwarzen Satin für die Hemden kaufte, die Vater bei der Erfüllung seiner seelsorgerischen Pflichten trug.
Der Laden wirkte etwas heruntergekommen; wahrscheinlich lag es an den kriegsbedingten Einschränkungen. Die obersten Regalfächer waren leer. Auch kam es Harald so vor, als wäre die Farbenvielfalt der Wollknäuel nicht mehr so üppig, wie er sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte.
Aber was sollte er heute hier?
Es dauerte nicht lange, bis er es erfuhr. »Bruder Sejr hat freundlicherweise zugestimmt, dir eine Arbeit zu geben«, sagte der Pastor. »Du wirst ihm hier im Laden helfen, Kunden bedienen und auch sonst alles tun, was du kannst, um dich nützlich zu machen.«
Sprachlos starrte Harald seinen Vater an.
»Frau Sejr ist gesundheitlich nicht auf der Höhe. Sie kann nicht mehr arbeiten. Ihre Tochter hat kürzlich geheiratet und lebt jetzt in Odense. Deshalb braucht Herr Sejr eine Hilfskraft.« Auf diese Erklärungen des Pastors hätte Harald auch verzichten können.
Sejr war ein kleiner Mann mit einem kahlen Kopf und einem schmalen Schnurrbart. Harald kannte ihn, seit er denken konnte. Er war aufgeblasen, geizig und verschlagen. Jetzt fuchtelte er mit seinem dicken Zeigefinger in der Luft herum und sagte: »Arbeite hart und sei gehorsam, dann wird vielleicht etwas Anständiges aus dir, junger Mann.«
Harald war entsetzt. Zwei Tage lang hatte er darüber nachgedacht, wie der Vater auf sein Vergehen reagieren würde, doch auf das, was jetzt geschah, war er nicht im Entferntesten gefasst gewesen. Das kam dem Urteil »lebenslänglich« gleich.
Der Pastor drückte Sejr die Hand und dankte ihm. Im Weggehen sagte er zu Harald: »Zu Mittag wirst du hier bei Familie Sejr essen. Nach der Arbeit kommst du sofort nach Hause. Wir sehen uns heute Abend.« Er wartete noch einen Augenblick, als rechne er mit einer Antwort, doch als Harald nichts sagte, verließ er den Laden.
»Also«, erklärte Sejr, »bevor wir öffnen, reicht die Zeit gerade noch zum Ausfegen. Im Schrank findest du einen Besen. Fang am besten hinten an und fege den Dreck nach vorn, sodass du ihn zur Tür hinauskehren kannst.«
Harald machte sich an die Arbeit. Als Sejr sah, dass er den Besen nur mit einer Hand führte, sagte er scharf: »Beide Hände an den Besen,
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