Mitternachtsfalken: Roman
Telefon und Post seit jeher getrennte Unternehmen, und es gab spezielle öffentliche Telefonbüros. Eines davon befand sich im Hauptbahnhof, und das war Hermias Ziel.
Sie hätte natürlich auch von der Britischen Gesandtschaft aus telefonieren können, doch das hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Verdacht erregt. Im Telefonbüro würde dagegen eine Frau, die gebrochenes Schwedisch mit dänischem Akzent sprach und mit Zuhause telefonieren wollte, kaum besonders auffallen.
Sie hatte mit Digby Hoare darüber diskutiert, ob das Telefongespräch von den Behörden abgehört werden würde. In jeder Telefonvermittlung in Dänemark saß mindestens eine junge Deutsche in Uniform und hörte mit. Obwohl es natürlich nicht möglich war, sämtliche Gespräche abzuhören, musste man damit rechnen, dass Anrufen aus dem Ausland und solchen mit militärischen Stützpunkten besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Gefahr, dass Hermias Unterhaltung mit Arne belauscht wurde, war daher sehr groß, weshalb sie gezwungen sein würde, sich auf Andeutungen und Umschreibungen zu konzentrieren. Doch das war kein unüberwindbares Hindernis. Sie und Arne waren ein Paar gewesen und kannten sich so gut, dass es möglich sein musste, sich ihm verständlich zu machen, auch ohne ins Detail zu gehen.
Der Bahnhof erinnerte von seiner Architektur her an ein französisches Chateau. Die große Eingangshalle war mit einer Kassettendecke und Kronleuchtern ausgestattet. Hermia fand das Telefonbüro schnell und stellte sich in die Schlange der Wartenden.
Als sie an der Reihe war, sagte sie zu dem Angestellten am Schalter, sie wolle ein persönliches Gespräch mit einem Arne Olufsen fuhren und gab ihm die Nummer der Flugschule. Dann wartete sie ungeduldig und nervös auf die Verbindung. Hermia wusste nicht, ob Arne heute überhaupt in Vodal war. Er konnte sich ebenso gut gerade auf einem Flug befinden, sich den Nachmittag freigenommen haben oder im Urlaub sein. Vielleicht hatte man ihn längst auf einen anderen Stützpunkt versetzt – und vielleicht war er sogar aus der Armee ausgeschieden.
Nur eines war sicher: Sie würde alles daransetzen, ihn aufzuspüren, egal wo er sich befand. Sie konnte sich an seine Vorgesetzten wenden und sich bei ihnen nach seinem Verbleib erkundigen, und sie konnte auch seine Eltern in Sande anrufen. Außerdem besaß sie die Telefonnummern verschiedener Kopenhagener Freunde. Sie hatte den ganzen Nachmittag Zeit und viel Geld für viele Telefonate dabei.
Dem ersten Gespräch zwischen ihnen nach über einem Jahr sah sie mit einiger Beklemmung entgegen. Einerseits war sie furchtbar aufgeregt, andererseits aber auch voller Befürchtungen. Ihr Auftrag war das eigentlich Wichtige. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich Gedanken darüber zu machen, was Arne ihr gegenüber inzwischen empfinden mochte. Vielleicht liebte er sie nicht mehr so wie früher. Was, wenn er sie abblitzen ließ? Es würde ihr das Herz brechen. Vielleicht hatte er inzwischen eine andere – sie hatte ja auch den kurzen Flirt mit Digby Hoare genossen. Fiel es einem Mann nicht viel leichter, sich für andere Frauen zu erwärmen?
Sie dachte an einen gemeinsamen Skiausflug: In weiten, perfekt aufeinander abgestimmten Schwüngen waren sie den sonnenüberfluteten Hang hinabgefahren. Sie schwitzten in der eisigen Luft und lachten laut aus reiner Lebensfreude. Würde es jemals wieder solche Zeiten für sie geben?
Hermia wurde in eine Telefonzelle gerufen.
Sie nahm den Hörer ab und sagte: »Hallo?«
»Wer ist am Apparat, bitte?«, fragte Arne.
Sie hatte seine Stimme vergessen. Sie war tief und warm und klang, als könne sie jeden Augenblick in Lachen ausbrechen. Er sprach ein gebildetes Dänisch mit einer präzisen Diktion, die er beim Militär gelernt hatte, und der Andeutung eines jütländischen Akzents, der noch aus seiner Kindheit stammte.
Sie hatte sich ihren ersten Satz genau zurechtgelegt. Sie wollte Kosenamen verwenden, die nur ihnen beiden bekannt waren, und hoffte, Arne damit auf die Vertraulichkeit des Anrufs hinzuweisen.
Doch nun brachte sie plötzlich kein Wort über die Lippen.
»Hallo?«, hörte sie ihn wieder. »Ist da jemand?«
Sie schluckte und fand ihre Stimme wieder. »Hallo, Zahnbürste, hier spricht deine schwarze Katze.« Sie nannte ihn »Zahnbürste«, weil sich beim Küssen sein Schnurrbart so anfühlte. Ihr eigener Spitzname leitete sich von ihrer Haarfarbe ab.
Nun war es an Arne, sprachlos zu sein. Nichts
Weitere Kostenlose Bücher